Gymnasium - Nachbarn
Nachbarn: Fremde oder Freunde?
Tschechische und deutsche Jugendliche beschäftigten sich in zwei Seminaren mit Stereotypen und Vorurteilen gegenüber der jeweils anderen Nation. Gemeinsam interviewten sie Menschen aus drei Generationen an ihren Herkunftsorten und erstellten verschiedene Zeitungen, die sie später in einer Ausstellung präsentierten.
Ein Projekt imTheodor-Heuss-Kolleg der Robert Bosch Stiftung.
Inhalte und Ziele
Unser Projekt thematisierte die deutsch-tschechische Beziehungen im Wandel. Weil diese besonders im bayrisch-tschechischen Grenzgebiet teilweise immer noch durch Ereignisse wie den Zweiten Weltkrieg und die darauf folgende Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus tschechischen Gebieten, die Isolierung der Bevölkerung durch den Eisernen Vorhang und negative Auswirkungen der EU-Erweiterung im deutsch-tschechischen Grenzgebiet belastet sind, empfanden wir es als wichtig, der Gefahr entgegenzuwirken, dass die Jugend die Ängste, Vorbehalte, Stereotype und Bilder der vorhergehenden Generationen weiter trägt.
Die deutschen und tschechischen Jugendlichen sollten sich mit der Geschichte der deutsch-tschechischen Beziehungen kreativ auseinandersetzen, um durch Kooperation neue Erfahrungen zu machen, welche bestehende Bilder vom „Anderen“ irritieren. Die Erfahrungen sollten der Öffentlichkeit, die oft unzureichend informiert ist, mitgeteilt werden.
Unser Projekt richtete sich an Schüler zwischen 14 und 18 Jahren aus dem tschechisch-deutschen Grenzgebiet (je zehn pro Land). Wir wollten gerade mit dieser Altersgruppe arbeiten, weil sich die Schüler in diesem Alter noch in einer Orientierungsphase befinden. Das Projekt sollte den Ansporn für eine zukünftige binationale Zusammenarbeit geben. Ein weiteres Ziel war der Austausch und das persönliche Kennenlernen von Land und Leuten als beste Prävention gegen feindliche Haltungen. Dazu beherbergten die Schüler sich gegenseitig in den Gastfamilien.
Die von uns angewandten Methoden waren gemischt: theoretischer Input in Form kurzer Vorträge, aber besonders wichtig erschien uns als Abweichung vom Schulalltag die eigenständige Arbeit in Gruppen, Diskussionen und interaktive Spiele. Die Schüler sollten sich sowohl geschichtliches Wissen und journalistische Kompetenzen aneignen, als auch das Vorgehen erarbeiten, mit denen sie selbständig in den Heimatorten Befragungen zum Thema durchführen und diese verarbeiten konnten. Dabei war sehr viel eigenes Engagement gefragt, welches die Schüler auch an den Tag legten.
Teilnehmer/innen und Unterstützer/innen
Für die Teilnahme am Projekt wurde direkt in tschechischen und deutschen Schulen geworben. Interessierte Schüler/innen (mit Deutschkenntnissen) legten in einem Essay kurz ihre Motivation dar und beschrieben anhand eines kleinen, selbst geführten Interviews die Atmosphäre in ihrer Stadt gegenüber Deutschen/Tschechen. Als Teilnehmer/innen an der Projektwerkstatt wurden je 10 Schüler aus dem J. Š. Baara Gymnazium zu Domažlice (CZ) und dem Werner-von-Siemens-Gymnasium zu Regensburg im Alter von 14 bis 19 Jahren (vorwiegend 16 bis 18 Jahre alt) ausgewählt.
Die Seminare und die Erarbeitung der Ausstellung unterstützten die Schulleitungen und Lehrer/innen der jeweiligen Schulen. Schirmherren des von der Robert Bosch Stiftung und Schering Stiftung geförderten Projekts waren Dr. Boris Lazar, Botschafter der Tschechischen Republik in Deutschland und Dr. Michael Libal, Botschafter der BRD in der Tschechischen Republik.
Vorbereitung
Neben den Fragen des Jugendschutzes erwies sich als Problem, dass Schüler nicht einfach so geworben werden können, sondern alles über die Schulleitungen geregelt werden musste. Es war ebenfalls nicht einfach, Schulen zu finden, in denen ein engagierter Lehrer existierte, der das Projekt unterstützen wollte und z. B. die Aufsicht übernahm. Besondere Schwierigkeiten gab es hierbei auf der deutschen Seite. Dem entgegen war es einfacher, politisch hochrangige Schirmherren und Grußwortschreiber für das Projekt zu gewinnen: In der Organisation vor Ort erhielten wir große Hilfe von den engagierten Lehrern.
Durchführung
Es fanden zwei Seminare in beiden Ländern statt, bei denen jeweils die Schüler des einen Landes in das andere Land fuhren und dort in den Familien der Schüler untergebracht waren. So war der Kontakt schnell hergestellt.
Im Seminar sollten die Schüler zuerst sprachliche Hemmungen durch Sprachanimation abbauen. Die deutschen Schüler wurden in das tschechische Alphabet eingeweiht und die sprachlichen und auch sonstigen Barrieren bei den Teilnehmern wurden durch verschiedene Spiele abgebaut. Durch Pantomime wurden verschiedene Alltagssituationen dargestellt und dabei die fünf wichtigsten Worte, die man in so einer Situation braucht, in beiden Sprachen auf der Tafel festgehalten und folglich gelernt.
Hintergründe des Zusammenlebens und die Konflikte zwischen Deutschen und Tschechen ab dem Jahr 1848 wurden mit Unterstützung von Referenten erfahren bzw. selbst erarbeitet.
In gemischten Kleingruppen wurden verschiedene für das Zusammenleben der beiden Nationen kritische Phasen anhand von Quellen und Texten erarbeitet, dann im Plenum vorgestellt, ergänzt und diskutiert.
Ein weiterer Schwerpunkt lag auf der interkulturellen Kommunikation und der Einheit 'Stereotype und Vorurteile'. Diese wurde praktisch eingeleitet, indem die Schüler in gemischten Gruppen in die Stadt gingen und kurze Interviews mit jeweils einem Tschechen und einem Deutschen führten. Die Fragen lauteten: „Was fällt Ihnen ein, wenn man Deutschland/Deutsche/Tschechien/Tschechen sagt?“ Die Ergebnisse waren überraschend. Die Leute sprachen meistens negativ über die eigene Nation, die „fremden Nachbarn“ wurden dagegen positiv beurteilt. Diese Äußerungen waren Anstoß für eine Gruppendiskussion, bei der sich die Schüler rege beteiligten und nach Gründen der Ergebnisse suchten.
Der letzte Schwerpunkt des Seminars lag darin, praktisches Wissen über die Durchführung von Interviews zu vermitteln.
Durch Befragungen, Interviews und Beobachtungen in ihrem Umfeld sollten die Schüler herausfinden, wie ihre Landsleute den fremden Nachbarn sehen. Die Aufmerksamkeit sollte vor allem auf die Veränderungen der Sichtweise innerhalb von drei Generationen (Großeltern, Eltern, Jugend) gerichtet sein. Dies bezog sich auch auf die Auswahl der Orte für die Interviews (z.B. Straße, Schulen, Seniorenheime usw.). Dem folgte ein gemeinsames Erstellen eines Fragebogens bzw. von Leitfäden, mit denen die Schüler in den folgenden zwei Wochen in ihrer Heimatstadt die Leute zu deren Sicht über die „Anderen“ befragen sollten.
Da ein zu langer Zeitraum, in dem die Schüler selbständig arbeiten müssen, zum Nachlassen ihrer Aktivität und Lust an der Sache hätte führen können, schlossen wir das Nachfolgeseminar bereits 14 Tage später an.
Ergebnisse
Im zweiten Seminar arbeiteten wir mit den Schülern drei Tage ohne Unterbrechung an der Fertigstellung der Ausstellung. Die Ausstellungseröffnung fand in Regensburg am Samstagabend statt.
Aus den Interviews und Kurzumfragen entstanden sechs mehrseitige Zeitungen: „Ocima pravdy“ („Durch die Augen der Wahrheit“), „Quo vadis, Europa?“, „Tolerance („Toleranz“), „Grenzgedanken“, „Tschechen in Regensburg“ und „Grenzenlos“. Dabei wurde darauf geachtet, dass sie ein möglichst breites Spektrum der Population und verschiedene Themen behandeln, sowie alle drei Generationen befragt wurden. Einige Beispiele für Artikeltitel:
- „Wer bewohnte das Sudetenland nach dem Krieg?“
- „Interview mit dem Bürgermeister von Furth im Wald“
- „Verzeihung ist wie ein Doping mit Gutem“
- „Wie sehen das die Skinheads“
- „Eine tschechische Entschuldigung - Fortschritt oder Rückschritt für die Deutsch-Tschechische Frage?“
Die Teilnehmer schrieben in ihrer Muttersprache, die Texte wurden dann folglich in die andere Sprache übersetzt oder zusammengefasst.
Die verschiedenen Herkunftssprachen der Teilnehmer stellten kein Problem für die gemeinsame Arbeit dar. Entweder wurde von der Seminarleitung, den anwesenden tschechischen Deutschlehrerinnen, den zweisprachigen Referenten oder den Schülern selbst satz- oder abschnittweise in die andere Sprache gedolmetscht.
Ausstellungspräsentationen
In Regensburg verlief die Eröffnung sehr professionell. Sie fand im Werner-von-Siemens-Gymnasium statt. Die Schüler stellten selbst den Ablauf des Projektes und ihre in Form von großen Zeitungstitelblättern gestalteten Interviews vor. Die Zuschauer waren begeistert von tschechischen Zungenbrechern in Rap-Form, chodischer traditioneller Musik (Chodenland – Region um Domažlice), der Vorstellung von tschechischen Bräuchen und natürlich dem Engagement der 20 beteiligten Schüler.
Das Programm der gesamten Vernissage haben die Schüler und Lehrer selbst und aus eigener Initiative vorbereitet und ausgestaltet (musikalisches Trio, kurzes Theaterstück über die Regensburger-Tschechische Geschichte, Gesang der Europäischen Hymne und des Domažlicer Liedes, etc.). Das zeigt besonders den Erfolg unseres Projekts mit dem Ziel der Förderung tschechisch-deutscher Zusammenarbeit.
Projektevaluation
Laut der schriftlichen Endauswertung des Seminars haben die Teilnehmer ihre Kenntnis über die deutsch-tschechische Geschichte erweitert und viel darüber erfahren, welche Fremdbilder auf beiden Seiten der Grenze existieren. Vermittelt wurden des Weiteren journalistische Kompetenzen zur Durchführung von Interviews und deren Aufbereitung sowie der Gestaltung einer Zeitung.
Der gezielte kulturelle Austausch und das Kennenlernen des anderen Landes erfolgte durch die wechselseitigen Besuche und die Unterbringung in den Gastfamilien, aber auch durch das gemeinsame Ausgehen der Teilnehmer am Abend.
Eine weitere Zielsetzung war das praktische, materielle Ergebnis, die Gestaltung einer Ausstellung durch die Teilnehmer, mit der die Öffentlichkeit in der Grenzregion von den Ergebnissen der Umfragen über die Bilder vom “Anderen“ in drei verschiedenen Generationen informiert werden sollte. Das Projekt fand ein überaus starkes Presseecho (u.a. in der Süddeutsche Zeitung), was zeigt, dass eine breite Öffentlichkeit die Existenz des Engagements der Schüler zur Kenntnis nahm. Und nicht zuletzt trug die Ausstrahlung einiger Mitschnitte der Vernissage in Regensburg durch das regionale Fernsehen zu einer allgemeinen Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit bei.



