Oral history
Wie Menschen Geschichte erleben
Wenn Großeltern, Eltern, Bekannte oder ältere Nachbarn aus ihrem Leben erzählen, kann das für uns sehr aufschlussreich sein. Denn dadurch erfahren wir, wie sie bestimmte Zeiten in den vergangenen Jahrzehnten persönlich erlebt haben, wie besondere Ereignisse auf sie gewirkt haben, welche Gefühle und Gedanken sie in bestimmten Situationen hatten. Berichte von Zeitzeugen sind daher wichtige historische Quellen – doch es sind einige Schritte zu bedenken, wenn wir Zeitzeugenberichte richtig nutzen wollen.
1. Schritt: Zeitzeugen suchen
Als Zeitzeuge kann jeder Mensch dienen, der zu einem untersuchten Themengebiet oder Vorkommnis aus persönlichem Erlebnis und Erinnern berichten und erzählen kann. Oft können Verwandte, Bekannte oder Nachbarn selbst Auskunft geben oder weiterhelfen. Wenn man so nicht genügend Namen oder Adressen bekommt, kann man einen Aufruf in die lokale Zeitung oder ein Anzeigenblatt setzen: „Wer erinnert sich…. Unsere Klasse…untersucht…und sucht Zeitzeugen.“ Ein Geschichtsverein und eine Geschichtswerkstatt können auch helfen. Fragt auch im Archiv, Museum oder z.B. im Rathaus nach. Sucht Gesprächspartnerinnen und –partner aus, von denen ihr glaubt, dass sie unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben, denn die verschiedenen Blickwinkel sind das Interessante.
2. Schritt: Das Gespräch vorbereiten
1. Verschaff dir zunächst selbst einen Überblick über die Zeit, von der dir dein Zeitzeuge erzählen wird. Nur so kannst du das Erzählte einordnen, bewerten und gezielt Fragen stellen.
2. Erstelle einen Fragebogen. Zum einen lässt sich anhand eines Fragebogens der Gesprächsverlauf lenken, zum anderen wird keine wichtige Frage vergessen.
3. Sinnvoll ist es auch, Fotos, Karten, Schriftstücke und ähnliche Originalquellen aus der Zeit bereitzuhalten, um einen Gesprächsanlass zu schaffen.
3. Schritt: Zeitzeugen erzählen
1. Schaffe für das Gespräch eine vertraute Umgebung. Meistens werden solche Gespräche bei den Zeitzeugen zu Hause geführt, allerdings können die Erinnerungen an den Orten des Geschehens anschaulicher und lebendiger ausfallen. Sehr ergiebig ist es auch, einen Zeitzeugen oder eine Zeitzeugin in die Klasse einzuladen und ein Gespräch im größeren Kreis zu führen.
2. Vergesst nicht, höflich zu sein. Die Begrüßung, genauso wie Bedanken, evt. ein Geschenk und die Verabschiedung sind Voraussetzungen für eine gute Gesprächsatmosphäre. Vorab könnte auch die ungefähre Gesprächsdauer und die Gesprächsführung besprochen werden. Falls ihr das Gespräch aufnehmen oder fotografieren wollt, vergesst nicht, zuerst um Erlaubnis des Zeitzeugen oder der Zeitzeugin zu fragen. Das gilt auch, wenn ihr Notizen während des Gesprächs anfertigen wollt.
3. Am besten lässt du deinen Gesprächspartner frei reden. Denke auch daran, dass der Zeitzeuge bzw. die Zeitzeugin oft von den Erlebnissen stark berührt ist, und es ihm oder ihr schwer fällt, davon zu erzählen. Trotzdem solltest du bei Unklarheiten genau nachfragen und wenn nötig, das Gespräch auf den Kern deines Interesses zurückführen. Respektiere aber auf jeden Fall den Wunsch, nicht über eine bestimmte Frage zu sprechen.
4. Das Gespräch sollte möglichst genau festgehalten werden. Am besten verwendet man ein Diktiergerät oder einen Kassettenrekorder mit einem guten Mikrofon. Noch besser dokumentiert eine Videokamera, die den Zeitzeugen und den Ort des Geschehens aufzeigt. Weniger genau wird die Dokumentation, wenn man das Gespräch in Stichpunkten mitnotiert oder nach Gesprächsende ein Gedächtnisprotokoll anfertigt.
5. Schritt: Das Gespräch auswerten
Folgende Fragen helfen dir, einen Zeitzeugenbericht auszuwerten und als historische Quelle zu nutzen:
1. Wer erzählt? Wie alt und in welcher Lage war der Erzähler damals?
2. Wie groß ist der zeitliche Abstand zwischen der Zeit bzw. dem Ereignis, von dem erzählt wird, und dem Interview? Welche Konsequenzen hat das für den Bericht?
3. Hat der Zeitzeuge bzw. die Zeitzeugin selbst erlebt, wovon er erzählt, oder hat er/sie es von anderen gehört?
4. Berichtet der Erzähler so objektiv wie möglich? Oder lässt der Erzähler eventuell bewusst Dinge weg? Wenn ja, aus welchen Gründen?
5. Vergleicht die neuen Informationen mit eurem bisherigen Wissen. Was ist neu für euch? Vergesst nicht, eure Gesprächsführung zu hinterfragen.
Siehe auch: Robl, Johann Wolfgang: „Zeitreise Bayern 10“, Klett, Leipzig 2004.
Regenhardt, Hans-Otto/Tatsch, Claudia: „Forum Geschichte, Band 4“, Cornelsen Verlag, Berlin 2003.
Publikation "Zeitzeugenarbeit mit neuen Medien" des Exil-Clubs
Spiel
Folgende Übung verdeutlicht spielerisch mit eigenem Erfahren von der Subjektivität von Zeitzeugenerinnerungen
Dauer: ca. 20-30min
Material: Papier, Stift
Die Schülerinnen und Schüler finden sich in Paaren zusammen. Einer der beiden sucht sich im Raum oder noch besser im Gebäude mehrere Punkte, die er sich in seiner Vorstellung zu einer Bildergeschichte zusammenstellt.
Anschließend holt er seinen Partner und zeigt ihm in derselben Reihenfolgen, wie seine Geschichte verläuft, die Bilder- ohne sie zu kommentieren.
Beide schreiben ihre gedachte Geschichte auf.
Anschließend vergleichen die Schülerinnen und Schüler ihre Geschichten mit der des Partners.
Im Gruppengespräch kann der Lehrer durch die folgenden Fragen darauf aufmerksam machen, dass dieselben Bilder nicht dieselben Eindrücke erwecken.
Wie viele Überschneidungen gab es in Euren Geschichten?
Waren beide positiv oder eher negativ?
Ihr habt die selben Bilder gesehen, aber andere Geschichten gedacht- ist das verwunderlich?
Leitfaden für ein Interview mit Vertriebenen zum Herunterladen