Auflistung nach Namen
Baier, Rudolf
Nach dem Zusammenbruch im Mai 1945 wurde unser Ort von amerikanischen Truppen besetzt. Ernstbrunn war eine rein deutsche Ortschaft, nur der Besitzer der Glasfabrik war ein Tscheche. So lange das Gebiet von Amerikanern besetzt war, ging das Leben normal weiter. Im Juni übernahmen die Tschechen die Zivilverwaltung. Von diesem Momente an ging das Plündern durch tschechische Partisanen und Gendarmerie los. Sie gingen bei Tag und Nacht ungehindert durch die Wohnungen (die Türe durfte nicht verschlossen werden) und nahmen sich alles mit, was ihnen gefiel. Wenn einem Tschechen an einem Deutschen, der auf der Straße ging (wir trugen Armbinden als Erkennungszeichen), etwas gefiel, nahm er ihm das kurzerhand weg. Schuhe wurden auf offener Straße ausgezogen, die Taschen durchsucht, Geld, Uhren, Schmuck, auch Eheringe wurden von halbwüchsigen, schwer bewaffneten jugendlichen Tschechen abgenommen. Mein Bruder, dem man ebenfalls eine alte Silberuhr wegnahm und welcher bat, man möge ihm dieses Andenken an seinen Vater lassen, erhielt Schläge ins Gesicht, man nahm die Uhr und sperrte ihn in eine Holzscheune ein. Später kamen drei Tschechen, welche ihn furchtbar misshandelten.
Vieh und Pferde wurden ebenfalls von Tschechen weggetrieben. Die Bauernhöfe in der Umgebung wurden größtenteils durch Slowaken besiedelt, Leute, die sich bis aus den Karpaten herbeiholten. Es waren dies durchweg arme Slowaken aus dem Gebirge, welche zur Besiedlung des deutschen Gebiets gezwungen wurden und sich den Deutschen gegenüber weinend beklagten, dass man sie gezwungen hat, ihre Heimat zu verlassen. Obzwar die Slowaken ohne jedes Gepäck ankamen und ihnen versprochen wurde, dass sie fertige, eingerichtete deutsche Wirtschaften übernehmen werden, aus welchen die Deutschen freiwillig davongelaufen sind, haben die Tschechen doch vorher alles, was sie fortschaffen konnten, also Kleidung, Wäsche, Getreide, Handwerkszeug usw., fortgeschafft. Die Slowaken waren darüber entsetzt, dass sie bei der Vertreibung der Deutschen mithelfen sollen, und beteuerten den Deutschen gegenüber wieder, dass sie nicht daran schuld seien und dass sie gerne zu Hause geblieben wären.
Die Glasfabrik in unserem Ort hat über 300 Arbeiter, durchwegs Deutsche, beschäftigt. Die Fabrik steht still. Auf den früheren deutschen Bauerngütern mussten die früheren Eigentümer für die Slowaken, welche davon wenig verstanden, die Felder bestellen. Allerdings stehen noch immer viele Häuser und ganze Ortschaften vollkommen leer und sind bisher noch nicht besiedelt worden.
Am 26. 6. 1946 erhielten wir die Aufforderung, am 28. 6. im Sammellager Christiansberg zu erscheinen. Mitnehmen durften wir uns nur die in dieser Aufforderung angeführten Gegenstände. Im Lager angelangt, mussten sich die Männer mit erhobenen Händen zu einem Tisch stellen und wurden von der Gendarmerie untersucht (Leibesvisitation). Die Frauen wurden in gleicher Weise von Frauen in Anwesenheit der Männer durchsucht, wobei ihnen die Röcke hochgehoben und auch die Wäsche abgegriffen wurde. Was von den uns bewilligten Gegenständen verhältnismäßig neu und nicht stark abgenützt war, wurde uns unbarmherzig abgenommen. Unsere Sparkassenbücher, sämtlicher Schmuck (auch Eheringe), Uhren sowie die wichtigen Papiere, insbesondere jene über Grundbesitz (Kaufverträge usw.), mussten abgeliefert werden. Eine Bestätigung darüber wurde nicht ausgestellt. Im Lager blieben wir 12 Tage.
Das Lager bestand aus neun Baracken, in welchen 2600 Personen untergebracht waren. Platz war wenig vorhanden. Wir schliefen dicht gedrängt auf der Erde oder auf unsere Habseligkeiten. Die Verpflegung bestand aus: Früh schwarzer Kaffee, zu Mittag eine Rüben- oder Erbsensuppe, am Abend schwarzer Kaffe. Nach 12 Tagen wurden wir in Eisenbahnwaggons verladen und unter militärischer Bewachung nach Furth i. W. gebracht.
Quelle: Rudolf Baier, Bericht vom 7. 8. 1946, In: Die Schneedörfer und Orte der Umgebung im Böhmerwald, Augsburg 1988, S. 253 – 254.
Breitschop, Paula
Mein Mann Franz Breitschopf wurde am 7.Februar 1946 von einem Gendarmen abgeholt und zwei Tage in Oberplan eingesperrt, wo ich ihm das Essen hinbringen musste. Nach 2 Tagen wurde er auf die Gendarmerie geführt und dort geohrfeigt. Am.9 .Feber 1946 wurde ich mit meinem Manne zugleich abgeführt. Der Mann kam in das Internierungslager nach Krumau und ich wurde von einem tschechischen Posten mit einer Maschinenpistole abgeholt und nach Tschaikowitz bei Budweis gebracht, wo ich. mit 8 deutschen Männern und Frauen zusammen auf dem Fürst Schwarzenbergschen Besitz schwer arbeiten musste. Ich musste zuerst dauernd Dünger laden, eine Arbeit, die für mich sehr schwer gewesen ist, da ich eine solche bisher noch nicht gemacht habe. Später musste ich 18 Kälber und 11 Kühe betreuen. - Mein Mann wurde im Lager sehr oft geschlagen und musste gefallene Russen, die bereits ein ganzes Jahr in der Erde lagen, ausgraben, abwaschen, schön ankleiden, in die Särge legen und am Friedhofe beerdigen. Von diesem bestialischen Gestank der stark verwesten Körper konnte mein Mann tagelang keine Nahrung zu sich nehmen und sich davon gar nicht erholen. - Mein Mann befindet sich noch heute im Internierungslager; meine zahlreichen Briefe an ihn blieben bisher unbeantwortet, so dass ich nicht weiß, ob er sich überhaupt noch am Leben befindet.“
Quelle: Sudetendeutsches Archiv München.
Dvorak, Christa Anna
Was die Eltern bis zum Schuljahresbeginn nicht ändern oder verbessern konnten, war unsere beengte Unterbringung. Im Herbst 49 kamen noch zu viele Menschen an, die zumindest ein Bett brauchten. Wenn ich heute darüber nachdenke, weiß ich nicht, wie unsere Familie es schaffen konnte, mit diesem Leben zurechtzukommen. Aber es musste gehen, und irgendwie ging es auch. Wer dachte damals z.B. an eine psychologische Betreuung der geschändeten Frauen oder an eine entsprechende Verpflegung für unterernährte Kinder? Deutschland war „am Boden zerstört“, die einheimische Bevölkerung musste sich selbst erst wieder aufrappeln, da blieb für die dreizehn Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen nicht allzu viel übrig. Jeder musste selbst schauen, wie er am besten zu recht kam. Das bisschen Übergangsgeld, ein paar gespendete Kleidungsstücke und die Schulspeisung wurden dankbarst angenommen, waren aber nur ein Tropfen auf den berühmten „heißen Stein“.
Christa Anna Dvorak: „Aus Böhmen vertrieben – aus Sachsen geflohen- in Bayern heimisch geworden“, Andreas-Haller-Verlag, Passau 1997.
Eppinger-Unterrainer, Auguste
Nachdem in Oberschneedorf und Neuhäuser das Getreide abgeerntet und gedroschen war, haben wir die Karte mit der Aufforderung zur Ausweisung bekommen. Eine Woche hatten wir Zeit zum Packen. Am 6. September 1946 sind wir mit den Familien Pechmann ("Kasperl"), Jungbauer ("Großkopf"), Mickschl ("Mikschlschuaster"), Penterling ("Peterl") und einer weitere Familie von Tschechen, die als Kolchosenleiter hier eingesetzt waren, in das männliche Arbeitslager nach Wallern gebracht worden. Drei Familien sind noch in Neuhäuser geblieben. Im Lager hat unser Vater bald erfahren, dass die Amerikaner an der Grenze in Furth i. W. nur vollzählige Familien übernimmt, bei uns aber fehlte einer, der Bruder Robert; er war in Budweis im Internierungslager. Dies hat Vater in der Lagerleitung in Wallern gleich gemeldet und ersucht zu veranlassen, dass Robert zum nächsten Transport frei kommt, der für 13. September bestimmt war. Da die Zeit zu kurz war ersuchten wir bis zum nächsten Transport zurückgestellt zu werden. Der Transport ging ohne uns ab und schon am nächsten Tag wurden wir nach Husinetz gebracht. Wir alle, bis auf Mutter und die jüngste, erst sechsjährige Schwester, wurde in einer Hutfabrik zur Arbeit eingeteilt und mussten uns selbst versorgen. Nach gut zwei Wochen kam der Befehl, alle Deutschen müssen ins Lager zurück, es gehe der letzte Transport ab. Dort, in Wallern, wieder angekommen musste unsere Anna, die Krankenschwester war, die Krankenstation im Lager übernehmen. Es hat schrecklich trostlos ausgesehen, fast keine Medikamente. Zwei Wochen sind noch vergangen bis die deutschen Familien aus den Sprachinseln zusammengeholt waren. Unser Robert kam nicht. Vater gab das Nachfragen auf als wir hörten, dass die Leute in den Gefängnissen, bevor man sie zu den Angehörigen ins Aussiedlungslager entlässt, geschlagen und übel zugerichtet werden. So fügten wir uns, um nicht noch mehr zu schaden, in das Schicksal.
Am 10. Oktober sind wir zum Bahnhof in Wallern gebracht und in die Wagons "verladen" worden. Unsere Anna musste die Betreuung vom Transport übernehmen; in unserem Wagon hatten wir die kranken Leute. Nach endloser Fahrt, wie uns schien, sind wir an der Grenze Furth im Wald angekommen, wo wir bei einem längeren Aufenthalt auch Verpflegung bekamen. Die Amerikaner kontrollierten jeden Waggon. Abends ging der „Vertriebenen-Transportzug"
weiter und am 13. Oktober sind wir in Neumarkt in der Oberpfalz angekommen. Bei den dortigen Einwohnern hat zunächst eine große Ratlosigkeit geherrscht. Wohin mit so vielen Menschen? Nach langen Beratungen wurden die Kranken und Gehbehinderten in ein Altersheim gebracht. Lastwagen kamen und fuhren uns mit Sack und Pack auf die Burg Kastl, wo wir am Speicher gelandet sind. Als es am nächsten Morgen Licht wurde sahen wir, dass wir in einer armen Gegend sind und wir hier nicht bleiben können. Vater entschloss sich um den Zuzug in den Landkreis Passau anzusuchen. Dieser war gesperrt, aber Pfarrkirchen hat noch Familien aufgenommen und wir bekamen dorthin Zuzugserlaubnis. Wir mussten im "Rottaler Hof" nochmals ins Lager gehen und erst kurz vor Weihnachten ist uns eine Wohnung in Brandstat zugewiesen worden. Über drei Monate unterwegs, von dem vertrauten Daheim in die Fremde! - Dort haben uns die Leute schief angeschaut, aber wie sie gemerkt haben, dass wir arbeitswillige Leute sind, hat sich ihre kühle abweisende Haltung doch bald geändert.
Quelle: Auguste Eppinger-Unterrainer: Erlebtes – Erlittenes. Ausweisung der Familie Damian Eppinger ("Mikschler"), In: Die Schneedörfer und Orte der Umgebung im Böhmerwald, Augsburg 1988, S. 316.
Großmann-Smola, Helga
Fahrt ins Ungewisse
Helga Großmann-Smola schrieb diesen Bericht für den Vortragsabend des 10. Winterberger Heimattreffens 1986 in Freyung. Er wurde um einige Erlebnisse einer unbekannten Verfasserin erweitert, die ihre Erinnerungen an den ersten Vertreibungstransport aus Winterberg in Heft 5/1966 des »Böhmerwäldler Heimatbriefes« veröffentlicht hat.
Im Januar/Februar 1946 verdichteten sich in der Stadt die Gerüchte um die bevorstehende Vertreibung aus der Heimat. Noch wollten viele nicht glauben, dass so etwas möglich wäre, und andere konnten sich nicht vorstellen, wie eine solche Abschiebung praktisch durchgeführt werden sollte. Aber am 10. März war es dann soweit. Die Namenslisten für den ersten Transport waren zusammengestellt, und um sechs
Uhr früh - es war ein Sonntag - trommelten Angehörige der tschechischen Miliz an Tore und Türen und Briefträger übergaben den Erstbetroffenen die Ausweisungsbefehle. Um vierzehn Uhr sollten wir zur Aussiedlung bereitstehen. So waren uns nur acht Stunden gegönnt, um pro Person 50 Kilogramm Gepäck herzurichten, das Bettzeug mit eingerechnet, das schnell in Decken oder wertlose Teppiche eingenäht wurde. In den Häusern und Wohnungen ist es hektisch zugegangen. Jeder wollte zeitgerecht fertig sein, und die Wahl, was mitgenommen werden sollte und auch durfte, war schwer. Unter Tränen nahmen wir von den Zurückbleibenden Abschied; wann und wo würde man sich wiedersehen?
So gegen 15 Uhr holten Ochsengespanne und Lastwagen das Gepäck ab, und ein Elendszug wanderte zu dem ersten gemeinsamen Nachtlager in zwei Sälen. Die Nacht verbrachten wir auf Stroh, die meisten aber halbwach auf ihrem Gepäck sitzend. Wie viele frohe Stunden hatten wir Jugendliche, besonders aber unsere Eltern und Großeltern, hier im Wiesersaal einst erlebt, der jetzt zur letzten Herberge in der Heimatstadt ausersehen war! Am nächsten Vormittag bewegte sich diese untröstliche Menge, es waren über sechshundert Personen, unter Gendarmeriebegleitung zum Bahnhof. Dort verstaute man uns in Viehwaggons. Etwa vierzig Personen mit ihrem gesamten Gepäck mussten in einem Wagen Platz finden; in den meisten mussten noch dazu zwei oder drei Kinderwagen mit den Babys untergebracht werden. Um die Kälte etwas zu lindern, es war ja erst Anfang März, gab es ein kleines Kohleöfchen, auf dem man auch Milch oder Wasser wärmen konnte.
[…]
Spät am Abend fuhr dann der Zug in Prachatitz ein, wo wir zunächst für eine Nacht auf Strohlager in die Turnhalle verfrachtet wurden. Am nächsten Tag kamen wir dann in das Sammellager in die Kasernen. Am 12. März mussten wir zur Registrierung. Wie wurde da schon mit unsern Ausweisen umgegangen! Viele Bilder unserer lieben Verstorbenen und Gefallenen, die wir zwischen unsern Dokumenten verwahrt hatten, wurden von den Tschechen auf den Boden geworfen und zertreten; niemand getraute sich, etwas aufzuheben, da man uns von allen Seiten genau beobachtete. Bei der anschließenden Gepäckkontrolle ging es unbeschreiblich zu. Von dem wenigen, das wir mitnehmen durften, wurde uns noch viel abgenommen, von dem man sich nun schweren Herzens trennen musste. Die Tschechen rauften sich geradezu um so manches Stück Wäsche oder Kleidung. Hernach folgte das traurigste Kapitel, die Abgabe der Sparbücher. Wie viele alte Leute mussten mit tränenfeuchten Augen und zitternden Händen ihre so schwer ersparten Notgroschen auf diese Weise verlieren! Die Tschechen grinsten höhnisch zu diesen Heldentaten. Auch die Leibesvisitation nach etwa verstecktem Schmuck oder nach Bargeld wurde ganz genau und ohne Rücksicht auf die menschliche Würde vorgenommen. Der »böhmische Zirkel« ging um...
Manchen Lagerinsassen brachten Verwandte etwas Verpflegung an das große Gittertor. Wenn wir dann hinliefen, um etwas aus Winterberg zu erfahren, dann schrieen die Posten »Potvory, zpět, střelíme na vás!« (zurück, Gesindel, wir schießen auf euch) und bedrohten uns mit ihren Waffen. Als von Wallern Zurückbleibende ihren Angehörigen Butterwecken als Reiseproviant brachten, verschwanden diese in der Lagerkanzlei, wo sie als Beute aufgestapelt wurden. Einige hatten den Mut, gegen diesen Raubzug Beschwerde einzulegen, worauf einige wenige der geraubten Sachen zurückgegeben wurden und bei den nächsten Transporten diese Diebereien unterblieben. Die Verpflegung im Lager bestand aus schwarzem Kaffee (Muckefuck) und Wassersuppen.
Am Joseftag, dem 19. März, einem herrlichen Frühlingstag, brachte man uns unter Gendarmeriebegleitung zum Bahnhof. Wieder in Viehwaggons, die völlig überfüllt waren, ging es auf die Reise ins Ungewisse. In Furth im Wald, endlich auf deutschem Boden, wurden uns Zettel in die Hand gedrückt, auf denen wir angeben konnten - es klang wie ein Hohn - wohin wir »zu gehen wünschten«. Zur Auswahl standen Hanau, Höchst und Rüdesheim. Wer von uns Winterbergern hatte bis dahin schon etwas von Hanau gehört? Vielleicht etwas von Höchst wegen seiner Industrie, sicher von Rüdesheim am Rhein, aber von Hanau? Schon in Prachatitz waren wir »entlaust« worden, ein Vorgang, der uns mehr amüsierte als kränkte, und den die, die ihn anordneten unter Umständen nötiger hatten als wir. Auch in Furth wurden wir wieder »entlaust« ...
Die Weiterfahrt von Furth wurde zu einer qualvollen, menschenunwürdigen Reise. Ab und zu wurde der Transportzug angehalten. Bestimmte Personen mussten aus den Wagen klettern und draußen antreten. Es wurde mit Fingern gezeigt, palavert, anscheinend suchte man Kriegsverbrecher. Die Betroffenen hatten Angst, aus unerforschlichen Gründen zurückgehalten zu werden und nicht mit den Angehörigen weiterfahren zu dürfen. Manchmal hielt der Zug, und alles musste aussteigen, damit wir entlang der Bahnlinie unsere aufgestaute Notdurft verrichten konnten. Jeder fürchtete, den richtigen, »seinen« Waggon nicht rechtzeitig wieder zu finden. Es kam auch vor, dass Männer während der Fahrt die Schiebetür etwas öffneten, um einer alten Frau, die sie an den Armen festhielten, die Erledigung ihres dringenden Geschäfts zu ermöglichen.
Nach einer endlos scheinenden Fahrt wurden einige Waggons, darunter auch der unsere, in Hanau abgekoppelt. Die anderen fuhren weiter in Richtung Höchst und Rüdesheim. Wir »Hanauer« hatten nur noch eine kurze Strecke in Richtung Fulda vor uns, bis wir in Nieder-Rodenbach endlich die Waggons verlassen konnten, während die letzten nach Langenselbold weiterfuhren. Am Bahnübergang warteten Ochsenkarren, von Bauern aus der Umgebung geführt, die unser Gepäck aufnahmen. Ein Teil der Winterberger wurde nach Rückingen gebracht, der andere den Berg hinauf nach Ober-Rodenbach. Ein kleines Dörfchen von dreihundert Seelen war das Ziel, das für viele von uns endgültig die »neue« Heimat werden sollte.
Ungefähr sechs Wochen lebten wir im Gasthaussaal des Anton Peter auf Strohlagern. Es gab nur eine »sanitäre« Anlage auf dem Hof und nur eine einzige Wasserpumpe. Nur unter schwierigsten Bedingungen konnte etwas gekocht werden. Schließlich waren alle auf die bäuerlichen Anwesen aufgeteilt und in Notwohnungen eingewiesen. Manchen Familien gelang es, in anderen Gebieten Deutschlands Fuß zu fassen; den meisten war Bayern am liebsten. Mit der Zeit fanden getrennte Familien zusammen, und mit weiteren Transporten kamen wieder Freunde und Bekannte aus der Heimat nach Hessen. Dort hatten wir erhebliche Verständigungsschwierigkeiten mit der ortsansässigen Bevölkerung und diese mit uns, denn der oberhessische Dialekt und unsere Winterberger Mundart weisen keine Gemeinsamkeiten auf. Ähnlich soll es auch den Winterbergern im Schwäbischen ergangen sein. Sehr schwer war das besonders für die Kinder, die zu Ostern 1946 in Ober-Rodenbach eingeschult wurden.
Nach und nach normalisierte sich das Leben. Wir, die von daheim Verjagten, trotzten der schier ausweglosen Situation, bauten das zerstörte Deutschland mit auf und schufen uns neue Existenzen. Die allermeisten von uns können stolz sein auf das, was sie durch Fleiß, Können und Zuverlässigkeit erreicht haben. Der Krieg hat unendliches Leid über die Welt gebracht. Uns hat er auch noch die Heimat, die geliebte und unvergessene, genommen. Vielleicht aber hat es das Schicksal trotz allem gut mit uns gemeint. Ob wir nämlich daheim unter den dort herrschenden politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen und als rechtlose Sklaven, denen man nicht einmal die Erziehung der Jugend in ihrer Muttersprache gewährt, glücklich wären? Diese Frage muss jeder für sich selbst beantworten. . .
Quelle: Hans Harwalik – Fritz Pimmer (Hrsg.), Winterberg im Böhmerwald, Freyung 1995, S. 568 – 573.
Guschlbauer, Anni
1946 lebte ich mit meinen Eltern, meiner Großmutter und meiner jüngeren Schwester in Unterschneedorf oben auf dem Haus von Tobias, wo meine Mutter herstammt.
Mein Vater, von Beruf Glasbläser, war in der Sozialdemokratischen Partei und hatte sich geweigert, der NSDAP beizutreten. Deshalb blieben wir als einzige Familie in Unterschneedorf von der Vertreibung verschont.
ca. Juni 1946, als die letzten aus dem Ort vertrieben waren, kam zu uns der tschechische Kommissar und sagte, wir sollten ins Dorf zum Weachtei hinunterziehen, um die zurückgebliebenen Tiere zu versorgen. Es war eine gespenstische Situation: In einem nahezu menschenleeren Dorf liefen Hunde, Hühner, Enten, Gänse. . . frei herum. Die Stiere waren beim Draxler, die Pferde beim Oldrichter in Ställen untergebracht und mussten gefüttert werden. Alle Kühe, es mögen 50 bis 60 gewesen sein waren beim Weachtei, soweit Platz war, in Ställen usw. untergebracht, die anderen liefen im versperrbaren Innenhof umher. Den ganzen Tag verbrachten meine Eltern damit, die Kühe zu melken. Ich musste die Geißen melken. Die Milch wurde anfangs einfach weggeschüttet, nach ca. vierzehn Tagen wurde sei in unregelmäßigen Abständen abgeholt. Immer wieder kam der tschech. Kommissar und gab Anweisungen. Im Laufe der Zeit wurden die Kühe immer weniger. Offensichtlich mit Wissen des Kommissars wurden in der Nacht immer wieder einige Tiere abgeholt.
Die Häuser blieben, wie man sie verlassen hatte. Oft stand noch das Geschirr auf dem Tische, wenn die Bewohner plötzlich weggemusst hatten. Meiner Schwester und mir schärfte die Mutter immer wieder ein: "Nehmt nichts aus den Häusern, die Leute kommen zurück!" Auch die Tschechen vergriffen sich anfangs nicht an deutschem Eigentum. Noch im Oktober 1946 war von den Geräten und Maschinen aus den Gehöften nichts verschwunden. Nur bei uns oben, beim Tobias, wo noch ein Teil unseres Hausrates stand, wurde einmal eingebrochen. Die Diebe wurden aber gefasst, und wir konnten unsere Sachen in Prachatitz wieder abholen. Ende Juni/Anfang Juli 1946 brachten uns die Tschechen zwei bombengeschädigte deutsche Frauen, die uns für ca. zwei Monate bei der Arbeit helfen sollten. Eine davon, eine gewisse Frau Schmid, war die Frau eines Kapitäns wahrscheinlich aus Hamburg.
In Brenntenberg waren noch vier deutsche Familien zurückgeblieben. Uns am nächsten wohnte Familie Wiener, mit deren Tochter Rosa ich befreundet war. Nach Brenntenberg kam auch immer ein Lieferwagen mit Brot. Die übrigen Lebensmittel konnten wir gegen Lebensmittelmarken in Wallern beziehen. Im Übrigen lebten wir von Milch und von dem, was in den Hausgärten wuchs.
In den "Stuimeirl" hatten die Deutschen vor ihrer Vertreibung Wertgegenstände und Waffen vergraben. Die allermeisten dieser Verstecke wurden von den Tschechen schnell gefunden. Entweder sie hatten irgendwelche Suchgeräte oder sie erkannten aus der Lage der Steine, dass hier irgendetwas versteckt war. Immer wenn wir einen ölgetränkten Lappen neben einem Stuimeirlliegen sahen, wussten wir, dass hier wieder ein Versteck geplündert worden war. Obwohl wir Kinder auch auf die Suche gingen, konnten wir nie ein Versteck ausfindig machen. Mein Vater hat einmal ein Gewehr vergraben. Bereits zwei Tage später, als er nachschauen wollte, war das Versteck leer. Ich sehe auch noch vor mir, wie in der St. Magdalener Kirche die Kühe umeinander liefen und die losen Bodenretter standen empor. Offensichtlich hatte man auch hier unter den Brettern Verstecke angelegt, die aber bald entdeckt worden waren.
Bis Ende Oktober 1946 waren alle Tiere aus dem Dorf weg und Grabesstille kehrte ein. Der tschechische Kommissar kam wieder und sagte: "Eure Aufgabe hier ist erfüllt!" Wir bekamen in Eleonorenhain eine Wohnung zugewiesen und mein Vater arbeitete in der dortigen Glashütte in seinem Beruf als Glasbläser. Ab April/Mai 1947 mussten meine Schwester und ich in die dortige tschechische Schule gehen, wo wir aber nichts verstanden.
Ende Oktober 1947 kam die Polizei und sagte: "Morgen geht für euch ein Transport. Seid morgen früh mit allem, war ihr mitnehmen wollt am Bahnhof!" Wir erfuhren aber nicht, wohin die Reise gehen sollte. In einem Viehwaggon, mit noch einer Familie, kamen wir nach l/2tägiger Fahrt in Včelnicka (hinter Tabor) an. Dort musste mein Vater wieder als Glasmacher arbeiten. Meine über siebzigjährige Großmutter war in Oberschlag zurückgeblieben, um bei Verwandten zu helfen.
Jetzt setzte meine Mutter alles daran, um auch ausgesiedelt zu werden. Sie fuhr selbst nach Prag und erreichte schließlich unsere Ausreise. Wir konnten einen Eisenbahnwaggon mieten, in den alle unsere Habseligkeiten verladen und über die Grenze transportiert wurden. Wir selber holten die Großmutter ab und am 1. 10. 1948 gingen wir zu Fuß zur Grenze bei Philippsreut.
Quelle: Die Schneedörfer und Orte der Umgebung im Böhmerwald, Augsburg 1988, S. 317 - 318.
Haselsteiner, Justine
Zu zweit wurden wir – etwa 600 an der Zahl – aufgestellt und unter 10 Mann tschechischer Gendarmeriebewachung vorbei an vielen Wallerern zu den Wagons geführt. Da vermissten wir den Rucksack mit dem ersparten Zucker, Mehl, Haferflocken und 2 Broten. So liefen Tochter Poldi und Hilde zurück zum Auto, doch es war schon alles im Haus untergebracht und abgesperrt. Der Wächter sagte ihnen: „Bei meiner Tschechen-Ehre morgen kommt alles nach in´s Lager“.
Vom Prachatizter Bahnhof bis zur Unterkunft mussten wir 650 der Heimat beraubte Menschen, zu zweit in der Kolonne marschieren. An der Polizei vorbei und vielen Zuschauern längs der Straße. Es war der 08. März 1946.
Wir wurden von zwei Frauen nach Geld und Schmuck durchsucht. Auch die Männer wurden von den Tschechen durchsucht. Ein höherer Beamter nahm meinem Mann 600 Kronen. 700 Reichsmark und 5 Sparbücher aus der Manteltasche und legte alles auf den Tisch. So hatten wir keinen Pfennig Geld.
Sie beschreibt die Situation im Sammellager Prachatitzt:
Während der 11 Tage im Lager gab es früh und abends schwarzen Kaffee mit Brot. Mittags täglich Kartoffelsuppe mit Brot. Einige hatten das Glück, dass Verwandte Gebäck brachten und ihnen durch den Stacheldraht zusteckten. Dies war aber nur möglich, wenn sie der Wächter mit der Hundepeitsche nicht sah und verjagte.
Die späteren Transporte der Wallerer kamen bis Oktober 1946 alle in die Gegend um Passau. Diesen Leuten ging es meist besser, da sie zu Bauern arbeiten gehen konnten und dafür auch zu essen bekamen.
Wegen des Lastenausgleichs hatte ich viele schlaflose Nächte und es kam was zu befürchten war, der Raub an unserem Eigentum wurde nicht annähernd gutgemacht. Nach Beschwerden an das Lastenausgleichsamt 1962, 1964 und 1966 bekam ich am 15. Juni 1966 den Rest des Ausgleichsbetrages vom Lastenausgleichsamt in Passau ausbezahlt.
Quelle: Sudetendeutsches Archiv München.
Keller, Helma
12.5. Neuhausl - Rosshaupt (Rozvadov). Wir freuen uns, heil an der Grenze zu sein. Morgen werden wir in Deutschland sein. Dann ist alles viel besser. So denken wir - und werden bitter enttäuscht. Die Amerikaner halten den immer stärker werdenden Flüchtlingsstrom nach Bayern an. Uns bleibt nur das Campieren im Freien auf einer Wiese. Die Nacht ist kalt und feucht. Nebel ziehen auf. Hunderte sitzen auf dieser Wiese gleich uns fest: Berliner, Sachsen, Schlesier und Pommern. Frauen mit Babys, Greise, allein gebliebene Kinder - einzelne und kleine Grüppchen. In Kinder- und Handwagelchen versuchen die Leute ihre Habe zu retten. Meinen Koffer hatte ich schon längst stehen lassen müssen, weil ich ihn nicht mehr zu tragen vermochte. Habe nur noch das, was ich am Leibe trage - zum Glück noch einen Wintermantel, eine Steppdecke und, es mag komisch klingen, eine Alt-Blockflöte. Anscheinend bleibt die Wiese für längere Zeit unsere "Unterkunft". Um nicht der tödlichen Langeweile zu verfallen, mache ich mit "meinen" Kindern KLV-Lagerbetrieb [KinderLandVerschickung], das heißt, wir singen erzählen, turnen und machen Spiele. Die Lehrerin versucht, ohne jegliches Hilfsmittel, Unterricht zu halten. Jeden Abend singe ich meinen Kindern ein Lied, wie gewohnt und spiele auf der Flöte. Alle auf der Wiese warten schon bald auf diesen Tagesausklang, um dann unter dem Sternenzelt vielleicht ein paar Stunden ihre Lage vergessen zu können. Die Amis geben den Kindern Weißbrot und Schokolade. Sie rufen: "Hello Fraulein" und geben den Mädchen und Frauen ganze Rationspakete. Ich gehe dort nicht hin.
22.5. Heute ist mein 19.Geburtstag. Zwei Berliner von der Wiese und die Kinder singen für mich ein Ständchen. Es war, trotz aller widrigen Umstände, ein schöner Tag, denn wir waren jung und voller Lebensmut.
4.6. Den Amis gefällt es endlich, uns weiterziehen zu lausen. Wir dürfen aber nicht geradewegs über die nahe Grenze, sondern müssen einen Umweg über St.Katharina, Linsendorf, Dianaberg bis wieder an die Grenze bei Eisendorf (Ruštejn) machen. Als wir dort ankommen, war die Grenze seit einer halben Stunde gesperrt. Wir sind dennoch nicht entmutigt und übernachten herrlich auf einem Heuboden.
5.6. Wir sind endlich in Bayern! Wir werden als "Nemci" nicht mehr gefährdet sein. Unser Jubel erfährt aber alsbald Grenzen. Die Flüchtlinge werden von einem katholischen Geistlichen in Empfang genommen und an die nächste Verpflegungsstelle weitergeleitet. Als ich mit meinem Häuflein ankomme sagt er wörtlich: "Für Nazis haben wir nichts übrig!" - Das müssen meine erzkatholischen Kinder erst verdauen. Wir gehen trotzdem mit der großen Masse über Pfrentsch nach Waidhaus. Dort ist in der Schule eine Verpflegungsstelle.
Quelle: Sudetendeutsches Archiv München.
Kreitmaier, Mathilde
Im Frühjahr 1946 mussten wir unsere geliebte Heimat verlassen, die unsere Ahnen unter großen Mühen und Entbehrungen der Wildnis einst abgerungen hatten. Innerhalbweniger Stunden mussten wir unser Haus- und unser Hab und Gut zurücklassen. Nur das Notwendigste durften wir in das Sammellager nach Prachtitz mitnehmen. Jeder Person war es lediglich gestattet, Gepäck bis zu einem Gesamtgewicht von 50 kg mitzunehmen, so insbesondere ein Federbett, warme Kleidung, Schuhe, Blechgeschirr und einige Nahrungsmittel. Schmuck und wertvolle Gegenstände wurden - soweit sie uns nicht schon bei den Plünderungen unmittelbar nach Kriegsende abgenommen worden waren - von den Tschechen im Lager in Prachatitz beschlagnahmt. Zwischen dem 7. und 13.6. 1946 wurden fast alle Deutschen der Gemeinde Wolletschlag in dieses Lager gebracht. Die arbeitsfähigen Jugendlichen und Erwachsenen wurden tagsüber in Prachatitz zu Reinigungsarbeiten herangezogen. Am 17.6. 1946 schlug dann endgültig die Stunde des Abschiedes. In etwa 40 Viehwaggons wurden die im Lager zusammengepferchten Deutschen in einem Sammeltransport mit der Eisenbahn aus ihrer Heimat abtransportiert. In jedem Waggon wurden 30 Personen, Erwachsene und Kinder, Gesunde wie auch Hochbetagte und Kranke mit ihrem Gepäck eingesperrt. Nur durch ein kleines vergittertes Fenster und die spaltbreit geöffnete Tür fiel etwas Licht in diesen dunklen Käfig. Besonders für Familien mit kleinen Kindern und alten Leuten war diese Fahrt eine Tortur. Unsere damals 80 Jahre alte Großmutter wurde unterwegs krank, doch sie ertrug auch diesen Abschnitt der Vertreibung ohne Klagen.
In Furth im Wald wurden wir von den Amerikanern und deutschen Behörden übernommen. Hier bekamen wir erstmals frische Verpflegung. Im zerbombten Schwandorf war der nächste etwas längere Halt. Unterwegs hielten wir auch kurzfristig schon an kleineren Bahnhöfen an. Über Nürnberg kamen wir schließlich in Augsburg an. Dort verließen wir den Zug. Die Behörden waren mit der Aufnahme der etwa 1200 Vertriebenen, die mit diesem Transport aus Prachatitz in den Westen gekommen waren, überfordert. Nach dem dreitägigen Transport fanden wir schließlich in einer bombardierten Strickerei eine mehr als notdürftige Unterkunft. Da gerade Fronleichnamsfest war, wurde im Lager auch eine Messe gelesen. Am folgenden Tag wurde der Transport aufgeteilt. Die Handwerkerfamilien brachte man nach Füssen im Allgäu; die Bauern und Häusler mit ihren Familien kamen in ein Lager nach Neuburg an der Donau. Das Lager war im Studienseminar eingerichtet. Hier waren wir während der nächsten acht Tage untergebracht. Durch die Strapazen des Transportes und die mangelnde Ernährung waren wir alle schon recht kraftlos.
Wiederum eine Woche später wurden wir zusammen mit etwa 30 anderen Leidensgenossen auf einem offenen Lastwagen verfrachtet und nach Untermaxfeld im Donaumoos gebracht. Mittlerweile schrieb man den 1. Juli. In dieser flachen und für uns daher ungewohnten Gegend mit schwarzer Moorerde war uns recht bange nach den vertrauten Böhmerwaldbergen. Wir ahnten nicht, dass Untermaxfeld auf einige Jahre unsere neue Heimat werden sollte, denn wir klammerten uns an die Hoffnung, bald wieder in unsere Heimat zurück zu dürfen. Im Saal des Dorfwirtshauses wurden wir einquartiert. Auf dem Fußboden war reichlich Stroh aufgeschüttet, auf welchem wir erstmals nach vielen Tagen tiefen und erholsamen Schlaf fanden. Die Wirtin war - was damals keine Selbstverständlichkeit war - eine gutherzige und freundliche Frau.
Sie stellte uns ihren großen Waschkessel zur Verfügung, in welchem wir uns eine Kartoffelsuppe kochen konnten. Die Kartoffeln hatten einige von uns von Bauern bekommen. Auch einige Liter Milch kamen für die Kinder zusammen. Da gerade die Zeit der Heuernte war, halfen wir den Wirtsleuten beim Heuwenden mit recht unhandlichen, schweren Rechen, die wir von unserer Heimat her nicht gewohnt waren. So verdienten wir uns in Bayern unsere erste "Brotzeit". Mehr erwarteten wir an Lohn nicht und bekamen wir auch nicht, denn damals war die Arbeitskraft in der Landwirtschaft nichts wert.
Wieder einige Tage später wurden wir Vertriebenen an die Bauern in Untermaxfeld und in der näheren Umgebung aufgeteilt. Mutter, Großmutter und Bruder bekamen in Untermaxfeld eine kleine Dachwohnung, wo fortan meine Mutter für die Bauern Wolle spinnen mussten. Als Lohn erhielt sie einige Lebensmittel. Ich selbst kam nach Stengelheim zu einem Bauern, wo ich mich einige Jahre später mit einem Landwirt verheiratet habe. Meine Schwester kam zu einer Bäuerin nach Obermaxfeld, deren Mann in Russland vermisst war. Mit ihren sieben kleinen Kindern hatte sie damals einen besonders schweren Stand. Meine Mutter, mein Bruder und meine Schwester fanden später in Schrobenhausen in der "Neuen Heimat" im Jahre 1959 letztendlich. tatsächlich eine neue Heimat. In jener Siedlung, in der heute zahlreiche Böhmerwäldler leben, errichteten sie sich ein schönes Eigenheim. Unsere früheren Nachbarn hat es in viele Gegenden Bayerns verschlagen. So kamen "s'Englbertn" nach Meitingen, wo sie auch heute noch leben. Andere sind im Allgäu ansässig geworden. Wieder andere, wie "s' Frounzn", gelangten in die Oberpfalz. Der Schmerz der ersten Jahre über den Verlust der Heimat ist gewichen; aber mit Wehmut denke ich immer wieder an meinen geliebten Böhmerwald zurück.
Quelle: Mathilde Kreitmaier geb. Thuma, Kindheit und Vertreibung, In: Kieweg, Herbert, Weasch’n, Wusch’n und Gulatsch’n. Die Pfarrei Sablat in Geschichte und Geschichten, 1994.
Leitermann, Franz
Während meiner Gefangenschaft wurden meine Ehefrau und meine älteste Tochter mit Bescheid des "Mistni Narodni Vybor - Správní komise" in Bistritz vom 22. 7. 1946, G. Z. 5085/46 aufgefordert, sich am 26. 7. 1946 um 7 Uhr mit ihrem Gepäck auf der Sammelstelle einzufinden und sich einer persönlichen Untersuchung zu unterziehen. Der zusammen gestellte Transport wurde in das Aussiedlungslager in Eisenstein, Ortsteil Elisetal, knapp an der bayerischen Grenze gebracht. Dort wurden die Leute in die ehemaligen Wald- und Glasarbeiterwohnungen, meistens kleine, zum Teil baufällige Häuschen, untergebracht. Es mussten mehrere Familien in einem Raume gemeinsam schlafen. Die Verpflegung bestand zum Großteil aus Kartoffeln und Gemüse. Die Erwachsenen mussten im Lager arbeiten.
Das Lager war mit Stacheldraht umzäunt und von bewaffneten Aufsehern bewacht.
Die inzwischen aus dem Klattauer Kreisgerichtsgefängnis und aus anderen Gefängnissen entlassenen Personen waren zu ihren Familienangehörigen im Aussiedlungslager gebracht worden. Meine Angehörigen mussten in diesem Elendslager auf mich bis Anfang November 1946, also 31/2 Monate warten. Am Vortage der Abfahrt des Transportes wurden wir und unser Gepäck durchsucht, Geld und wertvollere Gegenstände wurden abgenommen.
Am 13. November 1946 wurde unser Transport zusammengestellt. Wir und einige andere Familien kamen mit unserem Gepäck in einen Viehwaggon. Der sehr lange Eisenbahnzug fuhr über Neuern-Janowitz nach Furth im Wald. wo wir zwecks Entlausung und Registrierung aussteigen mussten. Dort stieg meine Tochter Johanna zu, die bereits in Bayern war lind die Durchfahrt des Transportzuges erfahren hatte. Dann ging die Fahrt weiter über Nürnberg, Fürth, Würzburg, Gemünden nach Aschaffenburg. Dort wurden wieder einige Waggons abgekoppelt. Wir kamen über Darmstadt nach Bensheim-Auerbach in ein Lager.
Die Eisenbahnfahrt war sehr unangenehm, das Sitzen auf den Kisten unbequem, keine Beleuchtung, Beheizung mit einem in der Ecke des Waggons stehenden eisernen Öfchen, das immer wieder umzufallen drohte. Bei Erschütterungen fielen Gepäckstücke vom Stapel herab, Geschirr zerbrach. Notdurft konnte nur durch Aussteigen aus dem stehen bleibenden Zug (außerhalb der Stationen) mit Gefahr dessen Davonfahrens verrichtet werden. Für Familien mit Kleinkindern war diese Fahrt besonders beschwerlich. Die an der Bahnstrecke gelegenen Ruinenstädte und die zerbombten Bahnhöfe machten auf uns einen erschütternden Eindruck.
Wie das Einwaggonieren musste auch das Auswaggonieren des Aussiedlungsgutes von den Ausgesiedelten selbst besorgt werden. Da möglichst viel in die Kisten gestopft worden war, waren manche derselben schwer zu bewältigen.
Der Weg in die "Freiheit" war trotz der Freude, der Tyrannei entronnen zu sein, eine Enttäuschung, denn dem Schmerz über den Verlust der Heimat gesellten sich im zerbombten und hungernden Gastland neue Sorgen und große Not bei. Daheim wohnten die Familien und Sippen meistens im gleichen Orte oder in kleinem Umkreise, durch die Aussiedlung in einzelnen Transporten wurden sie auseinander gerissen und in alle deutschen Länder verteilt, was besonders alte Leute mit großer Wehmut erfüllte.
Quelle: Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (Hrsg.), Theodor Schieder: „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus ost- Mitteleuropa. Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei. Band 2." Deutscher Taschenbuch Verlag 1957, Nachdruck 1984.
Lukešová, Jarmila
Dienstag 8.5.1945: wir standen am Radio, am Fenster, wo der wenig ruhmreiche Abzug der motorisierten Einheit der Deutschen Armee begann. Am Nachmittag sind da Panzerwagen und kleine Panzer. Die heutigen Deutschen stehen an der Straße und schauen auf die erschöpften deutschen Soldaten. Diese Deutschen sind nicht die Deutschen, die am 15. März 1939 an der Straße standen und „Sieg heil“ und ähnliches riefen. Damals kannten sie kein Wort Tschechisch und jetzt ist ihnen ihre tschechische Sprache bemerkenswerterweise zurückgekehrt.
Quelle: Jihočeské muzeum České Budejovice.
Nussbaum, Irmina
Am Abend des 3. Juni 1946 kam ein tschechischer Gendarm in unsere Wohnung und brachte eine doppelseitig bedruckte Karte, auf der außer dem tschechisierten Familiennamen (statt Hlinka - Hlinkova) alle Hinweise für die am 5. Juni vorgesehene Vertreibung gedruckt waren. Die gleiche Karte hatten am selben Tag viele Familien in Kuschwarda erhalten.
Das Gerücht über die bevorstehende Vertreibung hatte sich eilig im ganzen Ort verbreitet und nun erschienen Verwandte und Bekannte, um beim Packen der wenigen zur Mitnahme zugelassenen Habseligkeiten zu helfen. (50 kg für je 1 Person). Alles wurde in eine hölzerne Truhe aus Großmutters Besitz verpackt. Das Zusammensuchen des winzigen Anteils aus der ganzen Wohnung dauerte die ganze Nacht. Unsere kleine Katze, die sonst ruhig auf dem Sofa schlief, oder sich in den Heustadel verzogen hatte, schmeichelte uns ständig um die Beine und maunzte uns an, da die ungewohnte Unruhe in der Wohnung sie störte. Wer weiß, wo sie später umkam.
Am Morgen des 5. Juni erschienen zwei tschechische Gendarmen mit Lastwagen, auf denen die einzelnen Familien samt ihrem Gepäck verladen wurden. Alle Familienmitglieder "durften" auf ihren Truhen oder Kisten sitzen. So ging es in das Lager, das in einem Betriebsgebäude der Familie Steinbrener, in St. Anna, in der Winterberger Bahnhofstraße vorbereitet war.
(Heute ist dieses Gebäude ein elegantes Hotel mit dem Namen "Anna", da dem Eingang gegenüber ein großes Standbild der heiligen Mutter Anna steht, das ein Inhaber der Fa. Steinbrener einem in Wien tätigen Winterberger Künstler namens Igler abgekauft und damals im Giebel des Hauses hatte aufstellen lassen).
Während der Pfingstwoche mussten alle Vertriebenen im Lager bleiben. Ihr "Besitz" wurde noch einmal von den Tschechen gründlich durchsucht, und verringert, denn es hätte doch etwas dabei sein können, das ein tschechisches Herz hätte erfreuen können. Sogar eine kleine Puppe wollte ein tschechischer Gendarm einem Mädchen entreißen, aber das Kind hielt das Püppchen eisern fest, bis der Tscheche aufgab.
An den Pfingsttagen erschienen im Lager Bekannte aus Winterberg; sie brachten warmes Essen, da es im Lager nur dünnen schwarzen Kaffee gab. Nach Pfingsten wurden die Vertriebenen auf Lastwagen zum Bahnhof gebracht und in Viehwaggons verladen. Ein tschechischer Gendarm erschien mit einem Helfer in unserem Abteil und stapelte alle Truhen und Kisten so, dass die Sachen nicht durcheinander fallen konnten, was in anderen Viehwaggons immer wieder vorkam. Es war die kleine Geste eines tschechischen Mannes, dessen deutsche Schwiegereltern mit uns vertrieben wurden.
Am nächsten Tag fuhr der Zug in Richtung Furth i. W. ab. An der Grenze wurde von deutscher Seite für alle Zuginsassen eine Entlausung durchgeführt. Dann brachte uns der Zug weiter in die schwäbische Stadt Göppingen. Am Dreifaltigkeitssonntag durften wir "Kirta" in einem Sammellager einer deutschen Schule "feiern".
Manche der Vertriebenen wurden von Verwandten, die bereits in Westdeutschland sesshaft waren, abgeholt, aber die meisten mussten sich nun selbst um Wohnung, Arbeit usw. kümmern, was in dem damals zerstörten Deutschland nicht immer einfach war.
Wir wollten uns auf der Reise in den Bayerischen Wald während eines stundenlangen Aufenthalts in Ulm das Münster ansehen, konnten es aber vor lauter Trümmerbergen kaum finden, und konnten zwischen den gotischen Gewölben auch den blauen Himmel bewundern.
Wir waren sehr froh, von nun an in Bayern, in der Nähe unserer ehemaligen Heimat wohnen zu dürfen, wohin ab 1947 auch unsere damals noch in Gefangenschaft weilenden männlichen Angehörigen zu uns kamen.
Quelle: Nussbaum, Irmina: Die Vertreibung, In: Pfarrgemeinde Kuschwarda im Böhmerwald, Tittling 1996, S. 331 – 332.
Paulus, Franz
Vom 24. Juli 1945 an musste jeder Deutscher ein "N" auf der linken Brustseite tragen. (Spötter hatten dafür drei Erklärungen: Nazi, Nemec oder Narr). Dieses N musste man später auf gelbem Untergrund am linken Arm als Armbinde tragen. Kein Deutscher durfte auf der Eisenbahn oder mit dem Fahrrad fahren. Auf den Wagentüren waren Aufschriften angebracht mit dem Text: "Steig nicht ein, deutsches Schwein!"
Als Folgen dieses sinnlosen Krieges haben die Sudetendeutschen alles mit der völligen Enteignung und der anschließenden Vertreibung bezahlen müssen. Auch fanden sehr viele Verhaftungen von Deutschen statt.
[…]
Die Lebensmittelkarten waren für Deutsche ohne Fleischkarten. Es durfte niemand ein Schwein schlachten oder füttern. Scheinbar hatte Gott die Deutschen und die übrige Welt verlassen.
Die Ernte wurde noch vollständig eingebracht, und sie war sehr ertragreich. Erdäpfel gab es reichlich, sie wurden aber schon auf den Feldern in Gruben versteckt, da die Redewendung kursierte, dass diese von den Tschechen alsbald beschlagnahmt würden. Das war aber nicht wahr, es musste nur Getreide, Vieh und Butter abgeliefert werden. Butter lieferten die Leute soviel wie noch nie, in der Annahme, nicht ausgesiedelt zu werden. Noch glaubte man an die bevorstehende Aussiedlung nicht ganz. Von tschechischer Seite sagte man noch nichts, wollte man vielleicht doch noch den Frühjahrsanbau abwarten, um daraus weitere Vorteile zu haben?
[…]
Den ganzen Jänner ging ein starker Flüchtlingsstrom über die Grenze. Da die amerikanische Besatzung niemanden auf der Straße über die Grenze ließ, wurde alles von den Dorfburschen über die Grenze geschmuggelt. Sie verdienten viel Geld in Kronen und Reichsmark. Auch diejenigen, die hier wohnten, schmuggelten alles über die Grenze, was nicht zum täglichen Gebrauch nötig war, da bereits vorauszusehen war, dass alle Deutschen aus der Tschechei ausgesiedelt würden.
Diese Auswanderungsbewegung ging also auch im Februar weiter. Täglich kamen einige Fuhrwerke und Autos, größtenteils aus Wallern und Prachatitz. An der alten Schule wurden die Fahrzeuge von tschechischen Finanzern durchsucht und Schmuck und Gold abgenommen. Landstraßen war zu dieser Zeit ein riesiger Umschlagplatz, es kamen zunehmend Pferdefuhrwerke und Wagen von den Volksdeutschen aus Ungarn, die dann die Grenze passieren konnten. Auch Österreicher kamen täglich aus Nordböhmen mit Autos und ihrem beweglichen Hab und Gut. Diese konnten sofort die Grenze überschreiten. Später mussten sie über Krummau nach Österreich ausreisen.
Am 14. Februar kamen sechs Gendarmen und am 15. Februar 1946 eine Militärbesatzung. Auch wurde der Flüchtlingsstrom etwas langsamer. Zwei Familien aus Landstraßen flüchteten, und zwar Petrolina Traxler und Adolf Peterlik, letzterer ließ seine ganze Habe zurück. Karl Kerschbaum wurde als Verwalter eingesetzt.
März 1946: Gendarmen und Militär wurden abgezogen. Die Bewegungen an der Grenze gingen weiter und die Häuser in Bayern waren vollgestopft, so dass kaum mehr Platz war. Am 27. März ist Frau Schraml, Nr. 42, mit vier Kühen und der Mitterdorfer mit drei Kühen über die Grenze geflüchtet. Die Jung-Rinder ließen sie zurück. Diese wurden nach Kuschwarda abgeführt. Auch die Rosenauers sind geflüchtet und ließen ihr ganzes Vieh zurück. Kellermann Johann wurde als Verwalter eingesetzt.
Am 3. April 1946 besetzten 200 Gendarmen die Ortschaft und beschlagnahmten sämtliches Vieh, alle Maschinen, das Getreide und auch die Hühner. Es blieben nur noch 10 Kühe zurück. Am 21. und 22. April waren die traurigsten Ostern, die es jemals in Landstraßen gab. Am Ostermontag wurden die Leute aufgefordert, dass sie sich am 23. April 1946 um 8.00 Uhr beim Feuerwehrdepot mit 50 kg Gepäck einfinden sollen. Einige flohen noch in dieser Nacht über die Grenze, weil sie nicht ins Lager wollten. Ins Lager gingen nur mehr die Familien, deren Männer eingesperrt waren.
[…]
Es sind zunächst 10 Holzhauer-Familien, und ich als Österreicher zurückgeblieben. Alle Häuser, wo niemand mehr da war, wurden ausgeraubt, Heu, Stroh, Erdäpfel und Holz, viele, unzählige Fuhren! Es sah alles schauerlich aus, alle Türen und Tore waren offen, teils zertrümmert, die Fenster waren eingeschlagen. So schrecklich endete Landstraßen. Es wird die Prophezeiung eintreten, dass die Brennesseln aus den Fenstern herauswachsen würden.
Nachdem die Aussiedlung vorüber war, ging es ruhiger zu. Die Holzhauer schmuggelten noch nach und nach etwas über die Grenze. Am 27. Juni 1946 wurden die Kühe von Landstraßen bis auf vier Stück weggetrieben.
28. Juni 1946: Großausweisung aus Kuschwarda.
9. Juli 1946: Aussiedlung der letzten Bewohner aus Landstraßen.
Von nun an war ich der einzige Einwohner von Landstraßen. Die Tschechen nannten mich den Einsiedler von Silnice und ließen mich in Ruhe. Ich hatte zwei Kühe und zwei Jungrinder. Die Gendarmen kamen täglich zu mir, um Milch zu holen, bezahlten aber gut. Ich ging dann öfter nach Kuschwarda, da waren auch noch Österreicher und deutsche Böhmerwäldler. Als ich das Vieh verkauft hatte, rüstete ich zur Auswanderung.
Am 22. September 1946 verabschiedete ich mich als letzter Einwohner von Landstraßen. So endete das Dorf an der Grenze.
Paulus, Franz: Chronik über die Besiedlung von Landstraßen, In: Pfarrgemeinde Kuschwarda im Böhmerwald, Tittling 1996, S. 184 - 207.
Pechtl, Helmut
Am 10. Oktober 1938 erreichte die deutsche Wehrmacht gegen Mittag ohne den geringsten Widerstand seitens der Tschechen unsere Heimatstadt. Tschechische Beamte, die vom Landesinnern nach Prachatitz versetzt worden waren, waren noch dabei, ihre Habe zu verladen und konnten unbehindert über die Alt-Prachatitzer Straße nach Hussinetz ziehen. Die deutsche Bevölkerung, die trotz Beschimpfungen und Bedrohungen ausgeharrt hatte, konnte erst beim Anblick der deutschen Wehrmacht aufatmen. Die Freude über die Befreiung unserer Heimat vom tschechischen Joch war übergroß. Die deutsche Wehrmacht übernahm die Kasernen, die Ortskommandantur und bezog im Rathaus ihre Dienststelle.
[…]
Im Übereifer wurden einige Tschechen verhaftet, besonders solche, die sich 1918 bei Verhaftungen von deutschen Bürgern hervorgetan hatten. Aber schon nach 12 Stunden wurden sie entlassen. In Prachatitz wurde nicht ein politischer Gegner verhaftet. Der kommunistische Stadtrat J. F. konnte sich frei bewegen, ja er wurde sogar später bei der NSV (Volkswohlfahrt) als Lagerist eingesetzt. Wir waren alle so froh über die Befreiung, dass keine Rachegefühle aufkamen. Viele der ortsansässigen Tschechen blieben in der Stadt und versuchten, mit den neuen Verhältnissen fertig zu werden.
[…]
Die politische Eingliederung wurde im November 1938 großartig gefeiert. Der Ringplatz wurde mit Fahnen und Transparenten geschmückt. Der SA-Musikzug brachte über den Sender München das Morgenkonzert, die Formationen des ganzen Kreises marschierten zum Appell auf, Gauleiter Wächtler hielt eine Ansprache und anschließend nahm er den Vorbeimarsch ab.
Die Bevölkerung musste verschiedene Umstellungen hinnehmen. Über Nacht wurde von Links- auf Rechtsverkehr umgestellt. Hart getroffen hat die Bevölkerung der Umtausch der bisherigen Währung in Reichsmark. Für eine Reichsmark wurden 10 Tschechenkronen berechnet. Dies entsprach nicht dem Kaufwert der Krone. Mit diesem Umrechnungskurs brachten die Sudetendeutschen ein großes finanzielles Opfer für das Reich.
[…]
Mitte 1939 war unsere Heimatstadt politisch und verwaltungsmäßig voll eingegliedert. Es wurden Wehrdienst geleistet und Steuern an das Reich entrichtet. Die Steuers ätze waren höher als bisher.
Dazu gibt es eine nette Geschichte: Ein Arzt, der sehr beliebt und durch seinen Humor bekannt war, auch wegen seiner bedächtigen Sprache, die er führte, bekam seinen ersten Steuerbescheid, der natürlich höher ausfiel als bisher. Daraufhin ging er zum Finanzamt und erklärte den Beamten: "Wissen Sie denn nicht, dass wir 1938/39 immer am so genannten Adolf-Hitler-Platz standen und 'Siegheil' rufen mussten. Wenn ich gewusst hätte, dass das 'Siegheil' so teuer ist, hätte ich nicht gerufen". Ja, so warns', die alten Prachatitzer, humorvoll und oft mit beißender Ironie.
[…]
Eine bittere Enttäuschung war für uns der Einmarsch der Wehrmacht in die Rest-Tschechoslowakei. Karl Spinka schreibt zu diesem Ereignis die treffenden Sätze: "Die freudvolle Erwartung, nunmehr sei für unsere Stadt endlich die ersehnte Friedenszeit angebrochen, erwies sich leider als trügerisch. Die Mehrheit der Prachatitzer war über die Errichtung des 'Protektorat Böhmen und Mähren' keineswegs begeistert, das ungute Gefühl, dieser Gewaltakt könnte eine unheilvolle Entwicklung auslösen, war in der Grenzstadt der bitteren Erfahrung mit erlittenen Rechtsbrüchen, vorhanden".
Quelle: Helmut Pechtl, Der Anfang vom Ende, In: Grenzstadt Prachatitz im Böhmerwald, Heimatkreis Prachatitz 1986, S. 93 – 97.
Raschko, Adalbert
Am l2.Februar 1946 kam ein Tscheche auf meinen Besitz u. da musste ich meine Wohnung räumen u. in einen kleineren Raum im gleichen Hause, in welchem die Tochter vorher gewesen ist, ziehen.- Die Möbel wurden mir einfach weggenommen. Am dritten Tage kam ein Kommissar u..holte meine Tochter in das Internierungslager nach Krumau, wo selbst sie grundlos 5 Wochen verblieben ist. Außerdem wurde auch noch meine zweite Tochter Aloisia Raschko abgeführt.- Die Tschechen haben alle Möbel die ihnen gepasst haben sowie andere Wertgegenstände ganz einfach gestohlen. Der auf meiner Wirtschaft befindliche Tscheche ist 12mal vorbestraft und hat von der Landwirtschaft überhaupt keine Ahnung, sodass der Niedergang dieser Wirtschaft vorauszusehen ist. Als die Tochter in das Internierungslager abgeholt wurde, bekam meine Frau einen Herzkrampf, an dessen Folgen sie heute noch leidet.
Der Wert der Wirtschaft beläuft sich auf ungefähr 44.000 RM.
Quelle: Sudetendeutsches Archiv München.
Sitter, Ida
Wir wurden am Pfingstdienstag 1946 ins Lager gebracht. Bei der Durchsuchung fanden sie bei meinem Vater selbst angebauten Tabak. Natürlich wurde ihm dieser weggenommen. Meinen Vater kränkte dies sehr. Als der Transport zusammengestellt war konnten wir nicht mitkommen, da von meiner Schwester Marie das Kind schwer erkrankt war. Ich musste im Lager in der Küche mithelfen. Ein Onkel aus Wossek brachte uns etwas Essbares ins Lager, musste es aber beim Tor abgeben. So waren wir eigentlich so halbwegs versorgt, nur Vater jammerte täglich um seinen geliebten Tabak. Weil ich ihn nicht mehr länger leiden sehen konnte, kam mir der Einfall, vielleicht kann ich noch mal nach Hause gehen. Zu den Soldaten, die den Eingang des Lagers bewachten sagte ich dann, ob ich nicht zu meinen Onkel nach Wossek gehen könnte, um ihm Heueinfahren zu helfen. Zur Antwort bekam ich dann nur, was ich ihnen für diesen Freigang mitbringen würde.
Da ich auf diese Frage nicht gefasst war, fiel mir in der Aufregung nur ein "Honig". Sie sagten mir zu, aber mit der Auflage: "Den anderen Tag um 7.00 Uhr kannst du gehen und um 17.30 hast du wieder hier zu sein, sonst kommst du nicht mehr herein". Pünktlich um 7.00 Uhr verließ ich dann am anderen Tag das Lager und ging zu Fuß von Prachatitz bis Oberschneedorf. Ich musste auf Feld- und Schleichwegen gehen, um nicht erwischt zu werden, um 10.00 Uhr kam ich bei "Eduardn Wenzl" an. Ich wusste, dass die noch daheim waren und mein einziger Gedanke auf den Weg dorthin war, hoffentlich haben die Honig. Gottseidank wurde ich nicht enttäuscht. Ich ging dann weiter zu meinem Elternhaus und suchte als erstes den Stoff, den wir noch vor dem Abtransport versteckt hatten. Nun wickelte ich mir den Stoff um meinen Körper und steckte immer die selbst angebauten Tabakblätter dazwischen. Zog meine Kleider wieder darüber und schon war der Tabak verstaut. Zum Glück hatte mich dabei niemand beobachtet. Ich nahm dann noch eine große Kanne mit und ging nach Schönau weiter. Dort war noch meine Schwester Lorie. Die war ganz schön erstaunt, als ich bei ihr ganz erschöpft ankam und packte mir schnell in einen Rucksack 2 Laib Brot ein und etliche Flaschen mit Milch für die kranke Nichte. Die Nachbarin gab mir auch noch einen Laib Brot und so eilte ich schwer aufgepackt wieder zu Eduard Wenzl zurück. Die hatten in der Zwischenzeit Butter gerührt. Die Butter gaben wir in die große Kanne und gossen Buttermilch darüber, damit die Butter niemand bemerkte. Nun hatte ich auch noch die Kanne zu schleppen. Nun stieg schon das Angstgefühl in mir hoch, nicht pünktlich das Lager zu erreichen. Man begleitete mich noch ein Stück und dann marschierte ich alleine weiter. Als ich in Schweinetschlag ankam, war ich schon dem Umfallen nahe. Doch die Angst, ich könnte mich verspäten, trieb mich immer weiter. Die Schuhe hatten meine Füße schon aufgewetzt, so ging ich das letzte Stück barfuss. Weinend quälte ich mich weiter, denn durch das Barfussgehen war bald die ganze Fußsohle aufgerissen. Pünktlich um 17.30 Uhr kam ich dann beim Lager an und die Soldaten zeigten lachend auf meine blutenden Beine. Das einzige nach was sie mich fragten war, ob ich auch den versprochenen Honig nicht vergessen hätte. Ohne lange zu warten, nahmen sie mir einfach meinen Rucksack ab, nahmen sich den Honig heraus und die anderen Sachen ließen sie mir freundlicherweise. Am anderen Tag konnte ich nicht einmal meinen Küchendienst im Lager versehen, da ich mich vor Schmerzen nicht bewegen konnte.
Quelle: "Die Schneedörfer und Orte der Umgebung in Böhmerwald", Augsburg 1988, S. 314.
Spitzenberger, Emil
„Einsam, öde und verlassen scheint unser Dorf. Die Farmhäuser sind noch ganz bewohnt. Die Kesselhäuser um die Schule herum sind noch da, die Berghäusl sind leer und ab der alten Schule (Gaisbauer Adolf) bis Kuschwarda ist alles leer bis auf den Wanitschek. Nur knapp 20 Familien sind offiziell ausgesiedelt worden, die anderen sind heimlich über die Grenze geflüchtet. Ähnlich ist es in den Dörfern. Auch in Kuschwarda sind nur mehr wenige Deutsche. Kein Pfarrer ist auch nicht mehr da, ist geflüchtet und all sonntäglich ist eine deutsche Frühmesse, zu welcher ein Pfarrer aus Eleonorenhain kommt, denn selten sind die deutschen Pfarrer geworden. Zum zweiten Gottesdienst um 10 Uhr kommt ein tschechischer Priester, der deutsche geht heraus aus der Kirche, der tschechische hinein, reden tun sie kein Wort, ein Beispiel der katholischen Kirche, die von Nächstenliebe redet. Die Deutschen dürfen nicht in die tschechische Messe, nur zwei bis drei Schmeichler. Bei der Ausfertigung von Matrikenurkunden führt der Tscheche hohe Gebühren durch.
Wir arbeiten noch immer am Straßenbau. Die Tschechen sind zufrieden mit uns und zahlen uns pünktlich unsern Lohn. Noch immer wissen wir nicht, wann wir weg müssen und nun wird uns auch das klar, nachdem man uns die letzte Kuh nimmt.
Ein tschechischer Finanzbeamter brachte uns die Aussiedlungskarte, wonach wir am nächsten Morgen, den 29. Juni 6.00 Uhr früh zur Aussiedlung mit 50 kg Gepäck per Person fertig sein mussten. Noch schnell wurden von den Familien noch Hausratsgegenstände und Werkzeuge, die schon in Bereitschaft waren, über die Grenze gebracht. Alle Leute liefen mit Kleinigkeiten noch hinüber. Die Tschechen sahen es wohl, verfolgten uns aber nicht mehr. Gar schnell ging der letzte Tag zu Ende. Abends war ich noch mit einigen Nachbarn in der Nähe des Schulhauses. Die Tschechen kamen heraus, sagten, dass es ihnen leid tue, dass wir fort müssen. Eine Familie könnte vorläufig noch hier bleiben, um die sechs Kühe der Finanzer zu füttern. Wir gehen heim und legen uns zur Ruh, das letzte Mal in der Heimat.
[…]
29. Juni 1946. Schon um 4 Uhr früh waren wir munter. In der Stube standen die Kisten und Koffer mit unseren Kleidern. Elfriede ist noch gestern über die Grenze zum Emil, sie macht die Aussiedlung nicht mit.
Sechs Gendarmen kamen roh und ohne Gruß ins Zimmer, packten Koffer und Kisten, warfen sie auf den inzwischen vorgefahren Ochsenwagen und durchstöberten das Haus. Zum letzten Mal schaute ich mich in der Stube um, Tisch, Bänke, Stühle, Wäscheschrank, sah auf dem Herd, einige Töpfe, leere Bettstellen, denn das Bettzeug hatten wir eingepackt. An den Wänden hingen noch einige alte Heiligenbilder. Die Tschechen machten die Haustüre zu und wir gingen hinter dem Wagen her, der unsere Habseligkeiten barg. Ruhig, ohne Worte und Tränen gingen wir, auch schauten wir nicht zurück, unsere Feinde sollten sich an unserem Leide nicht freuen.
Auf die gleiche Weise ging es bei allen Familien und ein Wagen hinter dem andern fuhr durch Lichtbuchet, hinten ein Häuflein Menschen mit Gendarmeriebegleitung. In Kuschwarda standen Lastautos bereit, Kisten und Truhen wurden aufgeladen, einige Familien dazu, nebst zwei Gendarmen gings nach Winterberg, wo in der früher deutschen Bürgerschule das Lager war. Die Gendarmen erwarteten uns. Eine Kiste nach der anderen musste geöffnet werden und der Inhalt wurde durchgewühlt, die Kleidungsstücke abgetastet. Papiere kontrolliert und größere Geldbeträge sowie Schmuck abgenommen.
[…]
Unübersehbar war der Zug der Deutschen, der schweigend durch die Stadt zum Bahnhof marschierte. Männer, Frauen, Kinder und Greise, still und schweigend, wie ein ungeheuerlicher Leichenzug. Von beiden Seiten war der Zug von tschechischer Gendarmerie, Polizei und Partisanen begleitet, die mit gezogenen Waffen in allen möglichen deutschen Monturen wohl das Ehrengeleite gaben. Von den Balkonen und Fenstern der deutschen Stadt schauten die bereits angesiedelten Tschechenfrauen dem Menschenzug zu, erfreuten sie sich doch ihrer so leicht erworbenen Häuser, die die Deutschen verlassen mussten. Reibungslos und ruhig wickelte sich die Einwaggonierung ab. Die bereits im Lager abgezählten und nummerierten Gruppen werden zu den gleich nummerierten Waggons geleitet, der auch ihr Gepäck enthält und müssen einsteigen, wonach die Tür des Viehwaggons bis zu einem kleinen Luftspalt geschlossen wird und ein Partisan mit gezogenem Karabiner Posten fasst. Ein Aussteigen ist nicht mehr gestattet. Erst als die Dunkelheit einbricht, kommt in den langen, vorn und hinten mit je einer Lokomotive bewehrten Zug Bewegung. Der vor jedem Zug stehende Soldat steigt ein und frühmorgens sind wir in Pilsen. Dort stehen wir einige Stunden, aussteigen darf man nicht, und über Taus sind wir Mittag an der Grenze in Furth im Wald. Auf bayerischem Boden verschwindet der Partisan. Alle müssen aussteigen, waschen, zu den Aborten. Zur Untersuchung zwecks Ungeziefer und Krankheiten werden alle mit Insektenpulver eingestaubt, aber nichts zum Essen, nur etwas Brot, Zucker und Mehl wird familienweise verteilt. Nur das deutsche Zugspersonal ist da, kurz, bündig, unfreundlich. So kommen wir nach Cham, wo ein Teil der letzten Waggons abgehängt werden und die Flüchtlingspassagiere in den dortigen Gemeinden verteilt werden. Wir fahren weiter und stehen einen Tag in Regensburg. Man weiß nicht, wohin mit uns. Fast in allen Gemeinden sind schon Flüchtlinge. Die Bürgermeister wehren sich gegen neue Flüchtlingsaufnahmen.“
Quelle: Naubauer, Richard: Wo meine Wiege stand s’Lebuachert. Erinnerungen an das ehemalige Grenzdorf Ober- und Unterlichtbuchet mit Scheuereck im Böhmerwald, Verlag Dorfmeister, Tittling 2004.
Tahedl, Rose
Wieder zogen feldgraue Kolonnen vom Altreich her durch den Böhmerwald; diesmal aber weiter bis in die Prager Stadt, um dort ein Protektorat zu errichten. Die Böhmerwäldler berührte das freilich nicht mehr so unmittelbar wie im Jahr vorher. Aber dieser Überraschungseinmarsch löste ein tiefes Unbehagen aus. Man hatte mit den Tschechen seinen Frieden gemacht. Eine frisch gezogene Grenze trennte die beiden 'Völker.
"Mir han af unsern Grund und sej am örern!" Das war gerecht und richtig in den Augen der Wäldler. Ein Unrecht als Rest des Weltkrieges schien begradigt. Freilich war es beschwerlich zu den Verwandten und Freunden nach Nordböhmen zu kommen; man musste das ganze Böhmerland umrunden. Aber Grenze ist Grenze! Diesmal war es keine Paschergrenze, die man geschickt umgehen wollte. Längst hatten die tschechischen Beamten ihren Hausrat, soweit sie ihn im Oktober 38 nicht mitgenommen hatten, ins Innere des Landes nachgeholt. Man war quitt mit ihnen. - Und jetzt greift der Hitler zum ersten Mal nach fremden Land? Das war ein Unrecht. Dafür hatten die Leute ein feines Gespür. Das wusste man aus eigener bitterer Erfahrung: Ein Recht auf Land erwirbt nur der, welcher es im Schweiße seines Antlitzes gerodet hat.
„Werds segn, dos tuat koa guat; wounn er si am fremdn Bou(d)n vergreift!" sagte ahnungsvoll die Mali Wawi.
Wie recht sollte sie in ihrer Ahnung behalten! Das Rechtsempfinden, durch Generationen als Volkesstimme gewachsen, stellte sich - wenn auch ohnmächtig - gegen die militärische Überlegung, dass der Reststaat der Tschechen wie eine geballte Faust in den Leib des Großdeutschen Reiches stieß, und dass dieses Hindernis für weitere militärische Pläne beseitigt wurde. Auch wenn diese zaghafte Kritik nicht gegen den Siegestaumel im Radio ankam ein Unbehagen blieb zurück.
Es kursierte der Vergleich mit dem heimischen Gebäck, den Golatschen, die in der Wallerer Gegend so schmackhaft gebacken wurden: ,,S'Besser von Gulatschn is der Toag und d'Ram (Kruste). Dos war eahm (dem Hitler) zuag'stoundn. Ober den Gatsch i der Mitt, der wird eahm i d'Zähnt ou-picka.1I - Auch ein Vergleich: Das Viereck des Böhmerlandes mit den viereckig gefalteten Kuchenstücken! Man hielt sich eben daheim an Solides und Handgreifliches.
Quelle: Rosa Tahedl: Der Weg zum Protektorat Böhmen und Mähren, In: Die Schneedörfer und Orte der Umgebung im Böhmerwald, Augsburg 1988, S. 286 – 287.
Töpfl, Raimund
Am 11. 6. 1945 um 10 Uhr vormittags wurde ich von tschechischen Partisanen und Gendarmen in meinem Hause in Mü1lerschlag Nr. 31 aufgefordert mitzukommen. Ich wurde auf den Dorfplatz geführt, wo bereits zehn andere Ortseinwohner festgehalten wurden. Es stand ein Lastauto da, auf dem sich Männer, Frauen und Kinder aus der Umgebung befanden. Wir mussten zusteigen. .. Von meinen Dorfeinwohnern wurden folgende mit mir eingeliefert:
Adolf Markowetz, Bauer, Josef Merwald, Bauer, Raimund Stögbauer, Häusler, Karl Andraschko, Holzhauer, Johann Poidinger, Bauer, Rudolf Pablitschkom, Schuhmacher, Adolf Winkelbauer, Bauer, Adolf Olzinger, Drechsler, Franz Tomaschko, Holzhauser, Johann Palitschek, Häusler.
Wir wurden nach Wallern gebracht und dort in die Gendarmeriekaserne eingeliefert. In Wa1lern kam noch der Fuhrmann Otto Kempinger aus Wallern zu uns, und um 16.30 Uhr ging es in Richtung Bierbrücke weiter, wo wieder der Straßenarbeiter Vinzenz Sitter zugeladen wurde. Wir fuhren nun über Oberhaid nach Brenntenberg, wo der Angestellte Josef Marko zugeladen wurde. Dann ging es nach Prachatitz. Das Lastauto war so überfüllt, dass viele vor Hunger und Durst ohnmächtig wurden.
Auf der ,Schlagbank'
Um 21.30 Uhr nachts kamen wir in Prachatitz an und wurden in die neue Kaserne eingeliefert. Hier wurden wir sofort beim Eintritt mit Fußtritten und Gewehrkolben bearbeitet. Wer Lebensmittel dabei hatte, dem wurden sie von den Tschechen abgenommen... Nun begann das Einzelverhör mit der Niederschrift der Aussagen. Wir mussten uns a1le mit dem Gesicht an die Wand stellen in ,Stillgestanden', während einer nach dem andern einvernommen wurde. Wir durften uns nicht umsehen und nicht rühren, und wenn der eine oder andere vor Ohnmacht umfiel, dann mussten wir alle ,Turnübungen' machen. Dieser Zustand dauerte bis 3 Uhr morgens. Während der Einvernahme wurde jeder mit Gummiknüppeln, Faust, Gewehrkolben und Kinnhaken ,bearbeitet´, so dass die meisten blutüberströmt und entstellt aus dem ,Einvernehmeraum' herauskamen. Ich war der letzte bei der Einvernahme und wurde nur beim Verlassen des Raumes mit Fußtritten und Kolbenstöße hinausbefördert. Nach dem Verhör wurden wir in die Kerker des Bezirksgerichts und in die einzelnen Zellen verteilt. Es war inzwischen 5 Uhr morgens geworden. . .
Jeden Abend zwischen 10 und 11 Uhr, wo wir gerade nach der schweren Tagesarbeit im ersten Schlafe waren, wurde im ,Dienstraum' gearbeitet. Es wurden nämlich durchschnittlich Nacht für Nacht drei bis vier Gefangene herausgeholt, mussten sich im ,Dienstraum' auf ein Bettgestell mit dem Rücken nach oben legen, nur in der Unterwäsche, Männer wie Frauen, und dann wurde jeder einzelne ,im Dreschertakt' von vier Tschechen mit Gummiknüppeln geschlagen. Es war ein herz zerreißendes Schreien, das uns alle in der Zelle wahnsinnig machte, und jeder hatte Angst, dass auch er im nächsten Augenblick herausgeholt wird. Besonders qualvoll wurde mein mitgefangener Ortseinwohner Johann Palitschek gemartert. Ich habe bei ihm allein 150 Hiebe mitgezählt und sein Heulen mit anhören müssen. Scheinbar war aber seinen Quälern durch sein Heulen und Schreien noch mehr ,Arbeitslust' gekommen, und sie warfen ihn auf den Fußboden, wo sie ihn erst recht mit Fußtritten so ,bearbeiteten', dass sie ihm zwei Brüche traten. Da er nun nach solcher Misshandlung nicht mehr selbst gehen konnte, wurde er bis zur Zellentür geschleift und in unsere Zelle geworfen. Er war schrecklich zugerichtet, hatte keine unverletzte Körperstelle mehr, war ganz mit Blut bedeckt und krächzte nur, Raimund, ich bitte Dich, verlass mich nicht.' Ich selbst konnte ihm aber seine Schmerzen auch nicht stillen. Er konnte weder stehen noch liegen, da ihn der ganze Körper wegen der vielen offenen Wunden schmerzte. Jede ärztliche Hilfe wurde ihm verweigert, sogar die erbetene Bauchoperation abgeschlagen. Nicht viel besser erging es einem anderen Ortseinwohner, dem Johann Poidinger. Auch er wurde so geschlagen, dass er bewusstlos liegen blieb, wurde dann in diesem Zustand, da er gar kein Lebenszeichen mehr gab, zur Brunnenpumpe geschleift und dort solange mit Wasser begossen, bis er wieder zu sich kam und dann in die Zelle geworfen. Ich war vier Wochen in dieser Zelle und musste so Nacht für Nacht unfreiwillig das Martyrium mit mitgefangenen Volksgenossen anhören, das mich seelisch mehr mitnahm als die schwere Tagesarbeit. Wir fürchteten alle schon abends die Rückkehr aus der Arbeit, weil wir nicht wussten, wer heute wieder zur ,Schlagbank' geführt wird. Von unseren Ortseinwohnern wurden am meisten gequält: Johann Palitschek, Johann Poidinger, Rudolf Pablitschko, Adolf Markowetz und Adolf Winkelbauer. Alle sind bereits ausgesiedelt und wohnen in Bayern. Nach vier Wochen kamen wir wieder zurück nach Prachatitz in die Kerker des Bezirksgerichtes. Ich wurde nun krank, denn bei meinem Alter konnte ich das ,Essen' nicht vertragen und bekam einen schrecklichen Durchfall, wobei meine Körperkräfte zusehends schwanden. Das ,Essen' bestand nämlich aus kleinen ungeschälten Kartoffeln, über die ein dünner Absud gegossen wurde. Da mein Gesundheitszustand sich immer mehr verschlimmerte, wurde der deutsche Primararzt des Krankenhauses herbeigeholt, der meine sofortige Einlieferung in das Krankenhaus anordnete. Dies wurde jedoch mit dem Bemerken abgelehnt ,Die deutschen Schweine sollen krepieren.' Er verschrieb mir nun ein Rezept und selbst dieses wurde mir nicht anerkannt. Nur dem glücklichen Umstand, dass mir von der Küche eine dickere Graupensuppe vorgesetzt wurde, verdanke ich es, dass ich am Leben blieb und so Ende August 1945 als einer der wenigen so bald wieder in mein Heimatdorf zurückkehren konnte.
Quelle: Emil Franzel: „Die Vertreibung. Sudetenland 1945/1946“, Podzun-Verlag, Bad Nauheim 1967.
Wimbersky, Gretl
Ein Aufforderungsschein kam ins Haus, er besagte, dass wir uns (oft binnen zwei Stunden und auch, wenn die Leute gerade in der Kirche oder sonst wo waren) fertig machen mussten für den Abtransport. Von zwei, mit aufgepflanztem Bajonett bewaffneten Polizisten beobachtet, sollten wir einpacken, etwa 50 kg und nichts Wertvolles, Gutes. Was das war, bestimmten diese Aufpasser. In der Wohnung wurde mir da schon manches genommen, aus dem Koffer geschmissen. Hinter uns wurde die Türe versiegelt. Der Vater meiner Schwägerin ließ symbolisch für uns alle Gezeichnete als letzte Tat in seinem Heim den Perpendikel der Wanduhr stillstehen … Meine Mutter wollte noch mal an den Weihwasserkessel, um mir zum Ausgang die Stirn zu besprengen, man schob sie höhnisch weg - sie wollte noch mal Abschied nehmen vom Geschäft, durch Laden und Werkstatt gehen, man stieß die weinende Frau zum Tor hinaus. - Hinter dem Leiterwagen gingen wir schluchzend durchs geliebte Heimatstädtchen, hinauf zur Kaserne, dem Lager der Deutschen.
Dort wurde noch mal kontrolliert, gefilzt. Erschütternde Szenen spielten sich (besonders bei der Leibesvisitation) ab; auf Fotos, Geld, Sparbücher, Dokumente, auf alles, was deutsch geschrieben war oder etwas Wert hatte und was mancher doch noch retten wollte, waren sie besonders scharf. Mit der zerwühlten Habe mussten wir uns dann aufs dürftige Strohlager begeben. Wir Jüngeren wurden aufgefordert, noch mal die gelbe Armbinde umzutun und mussten dann beim Kasernentor die neu Ankommenden erwarten, ihr Gepäck abladen, in den Kontrollraum und zum Asyl schleppen. Koffer, Kisten, Säcke, Taschen, Binkel, die letzte Habe der Armen, wurden oft brutal auseinander gerissen. Ich versuchte mutig so manchem Landsmann zu helfen, habe heimlich gefragt: "Hobns wos zan verstecka?" Man händigte mir ängstlich Dinge aus, die dem einen oder anderen eben am Herz lagen, an denen mancher besonders hing, und ich lief mit Herzklopfen hoch zu unserem Notlager und verbuddelte die Sachen dort, und wenn es dunkel und ruhig war, gab ich sie vertraulich den dankbaren Menschen wieder. Irgendwie hatte mancher doch noch etwas, das ihm lieb war, vor den Kontrollen vorher gerettet - Urkunden, Aufzeichnungen, ein Sparbuch, ein Hochzeitsbild oder das vom gefallenen Sohn. . . Ein alter Herr kramte zitternd im "Schößlfrack" und holte drei Goldstücke heraus, ein anderer eine kostbare Taschenuhr, eine prächtige Pfeife ... ein Mütterlein vertraute mir einen teuren Rosenkranz an, eine Nachbarin eine Reliquie und ein Amulett. Aber die kleine Hilfe war nur ein Tropfen auf den heißen Stein, das Beste wurde konfisziert, blieb daheim oder wurde uns entrissen.
Quelle: Gretl Wimbersky: "Die Vertreibung", In: "Grenzstadt Prachatitz im Böhmerwald", Heimatkreis Prachatitz 1986, S. 99 – 104.
Wimbersky, Martha
Nachdem es ruchbar wurde, dass wir ausgesiedelt werden sollten und es immer schlimmere Schikanen gab, entschlossen sich viele zum freiwilligen Verlassen des Landes. Das Aussiedleramt befand sich im "Hotel Säumerglocke". Dort wurde das Gepäck versiegelt; 40 kg für 1 Person waren nur erlaubt. Auf amerikanischen Wagen kamen so manche über die Grenze. Solange die Amerikaner anwesend waren, waren Deutsche bei ihnen beschäftigt. Sie hatten keine Nahrungssorgen. Lebensmittel waren im Überfluss vorhanden. Im Spätherbst zogen die Amerikaner ab. Die Lage der Deutschen verschlechterte sich zusehends.
Quelle: Martha Wimbersky: "Das Schicksaljahr 1945", In: "Grenzstadt Prachatitz im Böhmerwald", Heimatkreis Prachatitz 1986, S. 105 – 109.
N.N.
Wir blickten in die alte Heimat
Schon zu Anfang der Sechzigerjahre waren erste Besuche in den Böhmerwald möglich. Viele der Vertriebenen wollten die Stätten ihrer Heimat, des ehemaligen Lebensraumes sowie die Friedhöfe ihrer verstorbenen Angehörigen aufsuchen.
Die Einreise war nur mit einem Visum und über den Grenzübergang Freystadt/ Wullowitz möglich. Dabei mussten verschärfte Kontrollen und unpersönliche Anweisungen des tschechischen Grenzpersonals oftmals in Kauf genommen werden. Beim Ankommen in den Heimatorten - viele konnten nicht mehr gefunden werden waren bei den meisten Besuchern Tränen, Zorn und Verbitterung oft nicht zu umgehen.
Nachstehend einige Aufzeichnungen dieser Erlebnisse:
"Nach einer langen Fahrzeit über Eisenstein erreichten wir Kuschwarda und meine zwei Buben wollten etwas zu essen. Nur das Hotel Schwarzenberg war geöffnet, aber von Soldaten und Zigeunern überfüllt. Alle sprachen sie tschechisch und ich hatte große Angst, als Deutsche erkannt zu werden. Von unserem Haus waren nur mehr einige Grundmauern und die Johannisbeersträucher zu sehen. So gingen wir auf die Steinbergkapelle und ich war froh, zwei Frauen zu begegnen, die ebenfalls ihre Heimat aufgesucht hatten. Nach einem kräftigen Gewitter hellte sich der Himmel auf und ich glaubte beinahe, wieder daheim zu sein."
" Als wir den Schlagbaum hinter uns hatten, rieselte es uns kalt und heiß über den Buckel, denn es kam uns unglaubwürdig vor, in der alten Heimat zu sein. Wenn ich den Zustand des Landes auch genau beschriebe, es könnte sich ihn doch keiner richtig vorstellen: man muss das selbst gesehen haben."
"Wir fuhren nach Österreich, zur Grenze bei Freistadt und von da über die österreichisch-tschechische Grenze. Beim tschechischen Zollamt mussten wir 21/2 Stunden auf unser Visum warten. Es waren anfänglich nur etwa 6 bis 8 Autos an der Grenze, bis wir aber abgefertigt waren, konnte man die Autoschlange nicht mehr übersehen. Nun durften wir mit dem Auto den 1. Schlagbaum passieren, dann mussten wir wieder halten und wurden erneut kontrolliert. Nun erst durften wir zwei weitere Schlagbäume durchfahren."
"Wir machten mit unseren Kindern die erste Grenzbesichtigung ihres Lebens. Jetzt hatten sie, was sie bisher nur vom Erzählen her kannten, in ihrer ganzen Unbegreiflichkeit vor Augen - die "Grenze"; alle paar Meter weit die gleiche Tafel, den Schlagbaum, den Drahtzaun, den Wachturm mit MG-bewaffneten Posten, Grenzpolizei, Heimat und Feindesland zugleich. Keine versöhnliche Geste, kein freundliches Wort, nur Gefahr. Wir wandten uns ab vom Unabwendbaren."
"Ja, es ist schon schön, die alte Heimat wieder zusehen, aber wie es dort aussieht, das schneidet arg ins Herz. Ich muss sagen, gerne fuhren wir wieder über die Grenze zurück. "
Quelle: Pfarrgemeinde Kuschwarda im Böhmerwald, Tittling 1996, S. 339.
__________________________________________________
Mein Vater hatte mich gelegentlich auch zu den Heimattreffen der Sudetendeutschen mitgenommen. Ich fand sie ziemlich gräulich. Aber manche Familienmitglieder und auch Cousinen und Cousins in meinem Alter nahmen daran teil- und tun es teilweise auch heute noch. Ich fand es schlimm, dass dort in der Regel nichts anderes stattfand als das Jammern über erlittenes Unrecht, ohne jegliche Reflexion, ohne nach Gründen und Ursachen zu fragen. Es hat mich auch verstört, als meine Cousine mir schilderte, wie sie vor unserem Haus in Budweis gestanden und geweint habe und dabei so richtig zornig geworden sei. Ich sage damit natürlich nicht, dass ich die Vertreibung von Menschen aus ihrer Heimat für gut halte, und ich bedauere auch, dass uns das Haus nicht mehr gehört. Aber ich versuche mir klar zu machen, warum wir es verloren haben. Dass letztlich wir die Opfer und Betroffenen waren, ist eine Sache. Ich habe aber immer versucht, die Vertreibung im politischen Kontext zu sehen.
Quelle: Wagnerová, Alena: 1945 waren sie Kinder, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1990.
__________________________________________________
Seit dem 8. Oktober 1938 waren wir also »beim Reich«. Es dürften nur wenige gewesen sein, die darüber nicht glücklich waren.
Nach den Tagen des Aufbruchs und der freudigen Unruhe normalisierte sich langsam das Leben in der Stadt. Manches war anders geworden. Da war das Gefühl, nun Herr im eigenen Hause zu sein. Man hörte keine fremdsprachigen Laute in den Gassen, und niemand vermisste das Grün der ungeliebten tschechischen Uniformen. An seine Stelle war das Feldgrau »unserer« Wehrmacht getreten, die den Winterbergern nicht nur als willkommene Befreier sympathisch war, sondern ihnen auch durch die betont soldatische Disziplin ihrer Männer imponierte.
So sah man zuerst nur belustigt zu, wie die Soldaten die Winterberger Geschäfte leer kauften und wie die Vorräte an guten Waren, sehr zum Vergnügen der Geschäftsleute, rasch dahinschwanden. Im Sudetenland gab es zum Beispiel Textilien von guter Qualität zu günstigen Preisen. Es fehlte der Bevölkerung nur an Geld, diese Waren auch kaufen zu können. Im Altreich dagegen waren schon so manche Waren aus Ersatzstoffen hergestellt. Der günstige Umrechnungskurs der Reichsmark zur Tschechenkrone von 1 : 12 war ein weiterer Anreiz, sich im Sudetenland mit Waren einzudecken. Weil aber die Geschäftsbeziehungen zu den Herstellern in der Rest-Tschechoslowakei vorerst ruhten und die Transportwege zu den sudetendeutschen Industriezentren sehr umständlich waren, mangelte es bald an verschiedenen Erzeugnissen, so dass sich die Wehrmacht veranlasst sah, eine Paketsperre für das Militär anzuordnen, damit die Versorgung der Zivilbevölkerung gewährleistet blieb.
Auch die nicht gerade geringen Biervorräte der beiden Winterberger Brauereien waren bald aufgebraucht. Ersatz kam durch Bier aus Bayern, das allerdings doppelt soviel kostete wie unser Winterberger Gebräu. Der Preis für den halben Liter stieg von 1. 50 Kronen auf 3 Kronen. Da sich vorerst Löhne und Gehälter nicht änderten und auch die Preise anderer Waren stiegen, war das ein Wermutstropfen in der allgemeinen Freude.
Andererseits wurde gleich nach dem Einmarsch die NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) tätig. Es wurden an die ärmere Bevölkerung Kleidung, Lebensmittel und Kohlegutscheine verteilt. Von dieser dringend nötigen Aktion zur Linderung der Not besonders in den Familien, deren Ernährer schon jahrelang arbeitslos war, wurde kein Bedürftiger ausgeschlossen.
Mit den Truppen kamen auch Führungskräfte der Partei und ihrer Gliederungen, die sofort für
ihre Formation (SS, SA, NSKK u.a.) zu werben begannen. So mancher wurde damals Mitglied, weil er glaubte, dazu als Dank für die Befreiung verpflichtet zu sein. Die allerwenigsten hatten eine Ahnung vom Wesen des Nationalsozialismus und erst recht konnte keiner wissen, dass er einer Organisation beigetreten war, die wenige Jahre später als verbrecherisch eingestuft werden wird.
Die Gestapo (Geheime Staatspolizei) etablierte sich im Hotel Zentral, in dem bisher die tschechische Staatspolizei residiert hatte. Von hier aus entfaltete sie ihre unheilvolle Tätigkeit. So wurden die verbliebenen deutschen Juden deportiert. Führende Sozialdemokraten und Kommunisten kamen für einige Monate zur »Umerziehung« in das Konzentrationslager Dachau. Bei den Festnahmen und Verhören kam es wiederholt zu Gewalttätigkeiten, von denen die Bevölkerung nur gelegentlich durch Zufall erfuhr.
Schon am 20. Oktober war die vorübergehende Militärverwaltung aufgehoben worden und die Geschäfte gingen auf die staatlichen Verwaltungen über. Der größte Teil des Böhmerwaldes wurde dem Reichsgau »Bayerische Ostmark« mit dem Sitz in Bayreuth zugeteilt und nicht - wie es der Wunsch der Bevölkerung gewesen wäre, der aus verkehrstechnischen Gründen nicht erfüllt werden konnte - dem Sudetenland, das einen eigenen Reichsgau bildete. Damit waren die Winterberger zu Bayern gekommen, dem Land aus dem die meisten ihrer Vorfahren stammten. Ähnlich erging es dem südlichen Zipfel des Böhmerwaldes, der zu Oberösterreich kam.
Die zuerst nur provisorisch untergebrachten Soldaten wurden in die Kaserne hinter dem Bahnhof, von der Bevölkerung »die Baracken« genannt, verlegt. Dort war bis zum 7. Oktober 1938 ein Bataillon „Hraničáři“ (Grenzwächter) stationiert, das von Oberstleutnant Sucharda befehligt wurde, der dann 1945 nach Kriegsende als »Partisanen-General« wieder im Böhmerwald auftauchte. Die deutsche Garnison trug nicht wenig zur wirtschaftlichen Belebung in der Stadt bei. Die Soldaten waren in den Gaststätten gern gesehen, und auch die Geschäftswelt schätzte sie als Kunden. So wie die tschechische Garnison das gesellschaftliche und kulturelle Leben der tschechischen Minderheit vor 1938 befruchtet und positiv beeinflusst hatte, so waren jetzt die deutschen Soldaten eine willkommene Stärkung und Blutauffrischung für die Vereine. Und manche junge Winterbergerin fand an der Seite eines dieser Soldaten der Garnison ihr »Glück fürs Leben«.
Wenig Verständnis hatte man in Winterberg für die Maßnahmen des »Stillhaltekommissars«. Mehrere traditionsreiche Vereine und Genossenschaften wurden aufgelöst oder in reichsdeutsche Verbände mit ähnlicher Zielrichtung übergeführt. So wurde zum Beispiel die Konsumgenossenschaft »Konsumverein« aufgelöst und die wertvollen Bestände der Bibliotheken der Deutschen Jungmannschaft und des Bundes der Deutschen u. a. in die Stadtbücherei eingegliedert. In manchen Fällen ging die Leitung auf Reichsdeutsche über, obwohl verdiente und fähige einheimische Führungskräfte vorhanden waren. Was früher freiwilliges Engagement war, wurde nunmehr zum Zwang: Versammlungen, Appelle, Schulungen hielten die Bevölkerung in Atem. Man konnte sich des Eindrucks nicht ganz verschließen, dass die »müden Neudeutschen «, wie schon vorher die Österreicher, in möglichst kurzer Zeit umerzogen und auf Vordermann gebracht werden sollten. Der Unmut über manchen Missstand hielt sich aber in Grenzen; man entschuldigte ihn mit Obergangsschwierigkeiten und war nach wie vor froh, Deutscher, Reichsdeutscher, zu sein.
Zur Zufriedenheit der Bevölkerung trug viel bei, dass die Arbeitslosen Arbeit bekamen. So mancher, der im Tschechenstaat nie hätte damit rechnen können, wurde nun bei Bahn, Post, Forst und anderswo im öffentlichen Dienst beschäftigt. Mit der Errichtung des Arbeitsamtes im Jahre 1939 konnten alle noch nicht Beschäftigten in ein Arbeitsverhältnis vermittelt werden; sie mussten allerdings Arbeitsplätze da
annehmen, wo sie gebraucht wurden, also besonders in den Industriezentren des Altreiches. Aus dem Recht auf Arbeit wurde mit zunehmendem Bedarf von Arbeitskräften für die Rüstungsindustrie die Pflicht zur Arbeit. So manche kinderlose Dame wurde sehr gegen ihren Willen dienstverpflichtet.
Nicht alle Tschechen hatten in den ersten Oktobertagen des Jahres 1938 die Stadt verlassen. Einige der alteingesessenen tschechischen Familien blieben und führten ihre Geschäfte weiter. Erst gegen Kriegsende wurden deren Geschäfte geschlossen und die Inhaber, soweit es vom Alter her zumutbar war, zu berufsfremder Arbeit verpflichtet.
Auch nach dem Anschluss an das Deutsche Reich suchten viele Bewohner der tschechischen Dörfer jenseits der Sprach- und Protektoratsgrenze in Winterberg Arbeit. In deutschen Geschäften und Unternehmen fanden sie ihren Lebensunterhalt, zum Beispiel als Arbeiter und Angestellte der Wäschefabrik Seidensticker, in der Möbelfabrik Kotschwara, in der Verlagsanstalt und Druckerei J. Steinbrener; sie arbeiteten aber auch als Verkäufer in Einzelhandelsgeschäften. Als immer mehr Winterberger zum Kriegsdienst einberufen wurden, nahmen Tschechen aus den Nachbargemeinden Busk, St. Mářa, Trhonin, Zdikau und aus anderen Orten deren Arbeitsplätze ein.
Die Kinder der in Winterberg verbliebenen Tschechen besuchten zum größten Teil die deutschen Schulen, auch die neu gegründete Handelsschule; sie wurden wegen ihrer Nationalität nicht benachteiligt.
Ende 1938 hatte Winterberg trotz des Abzugs des größten Teiles der tschechischen Bevölkerung wieder 4950 Einwohner, von denen 270 sich als Tschechen bekannten. Deren Zahl dürfte in Wirklichkeit größer gewesen sein, da mancher Opportunist sich Vorteile erhoffte, wenn er sich als Deutscher bezeichnete.
Dass das Ns-Regime nicht kirchenfreundlich war, erkannte man bald auch in Winterberg, wo die Bevölkerung besonders starke Bindungen an die katholische Kirche hatte. Von den Gliederungen der Partei, später auch von der HJ (Hitler-Jugend), wurde »Dienst«, der Pflicht war, öfter absichtlich dann angesetzt, wenn Gottesdienste oder Andachten stattfanden. Das von der Firma Steinbrener errichtete Exerzitien- und Erholungsheim »St. Rafael« wurde in einer Nacht- und Nebelaktion entschädigungslos enteignet. Das Haus, das von Ordensschwestern vorbildlich geführt wurde, diente der Erholung kranker Arbeiter dieses Unternehmens und deren Familienangehörigen und war auch eine Stätte geistlicher Einkehr. Die Schwestern mussten unverzüglich ihre Wirkungsstätte verlassen und durften nur das Inventar der Hauskapelle und ihre persönliche Habe mitnehmen. Das Exerzitienhaus erhielt einen Anbau und wurde Kreisschule der NSDAP.
In Winterberg waren mehrere geistig Beschränkte, arme bemitleidenswerte Wesen, die sich auf ihre Art ihres bescheidenen Lebens freuten. Damals, wo man noch nicht so empfindsam war wie heute, nannte man sie Deppen, Dorfdeppen. Sie gehörten zum Straßenbild, wurden von jung und alt auf gutmütige Weise gehänselt, aber auch mit kleinen Gaben bedacht, wenn sie um solche baten. Wer erinnerte sich nicht des »Hülzernen Prinz« oder des »Dinei« und all der anderen? Mit der Einführung der neuen Ordnung wurde das Betteln verboten. Diese armen, harmlosen Wesen mussten ihre gewohnte Umgebung, ihre armselige Unterkunft im Armenhaus verlassen und wurden in ein Sammelasyl nach Prachatitz abgeschoben. Nur wenige sollen das Kriegsende überlebt haben.
Während solche Aktionen ohne großes Aufsehen durchgeführt wurden, sind andere unter der Regie der Parteipropaganda groß herausgestellt worden. Viele Kinder, von denen nicht wenige als Folge der Notjahre unterernährt und kränklich waren, wurden zur Erholung ins Altreich geschickt. Desgleichen kamen kinderreiche Mütter in Müttererholungsheime. Manchem Arbeiter wurde durch KdF (Kraft durch Freude) der erste Urlaub seines Lebens ermöglicht.
Bis zur Mitte des Jahres 1939 hatte sich die materielle Lage der Winterberger erheblich gebessert. So war es auch kein Wunder, dass viele Interessenten für die Idee des Volkswagensparens gewonnen werden konnten. Am Ringplatz wurde der VW gezeigt. Die Vorführwagen, von Menschentrauben umlagert, waren eine gute Werbung, und so mancher sah sich schon als stolzer Autobesitzer. Dieser Ur-Volkswagen sollte 990 Reichsmark kosten, das war ein Preis, der durchaus erschwinglich schien. Noch ahnte niemand, dass mit den Raten der Volkswagensparer VW-Kübelwagen für den Kriegseinsatz gebaut werden würden. Viele Familien hatten nun die Möglichkeit, ein billiges Rundfunkgerät zu erwerben. Den »Volksempfänger«gab es für nur 35 Reichsmark. Arme kinderreiche Familien erhielten ihn leihweise kostenfrei von der NSDAP.
Die wenigen Monate in Frieden bis zum 1. September 1939 waren zweifellos die glücklichsten im Dasein der Winterberger als Staatsbürger des Großdeutschen Reiches. Zwar hatte die Besetzung der Rest-Tschechei und die Ausrufung des »Protektorates Böhmen und Mähren« bei vielen einen Schock ausgelöst. Niemand billigte diesen, von den arglosen Sudetendeutschen nicht erwarteten Schritt, und viele begannen an der Zuverlässigkeit von Führerworten zu zweifeln. Zu wach war noch die Erinnerung an Hitlers Ausspruch »Wir wollen gar keine Tschechen!«. Besonders den Sudetendeutschen war das aus der Seele gesprochen, waren sie doch nach ihren Erfahrungen froh, der Tschechen ledig zu sein. Und jetzt? Doch man tröstete sich mit der Hoffnung, dass nun das Großdeutsche Reich abgerundet und saturiert sei und man träumte von einem Leben in Frieden und Zufriedenheit.
[…]
Einige Tage nach der Besetzung Winterbergs durch Angehörige der 252. amerikanischen motorisierten Division konstituierte sich der örtliche narodní výbor (Nationalausschuss). Er bestand vorwiegend aus jenen Tschechen, die in Winterberg verblieben waren. Zum Vorsitzenden wurde der Bäckermeister Franz Černík gewählt, der damit an die Stelle des letzten deutschen Bürgermeisters Franz Thema trat, der ihm die Amtsgeschäfte übergeben musste. Thema wurde verhaftet und vorübergehend in Prachatitz inhaftiert. Černík konnte sein Amt aber erst ausüben, als er vom amerikanischen Militärkommandanten bestätigt war.
Die Winterberger hatten sich daran gewöhnt, dass von ihrem Rathaus nunmehr drei fremde Fahnen wehten: eine tschechische, eine amerikanische und eine sowjetische. Auch an das Auftreten tschechischer» Partisanen« gewöhnten sie sich. Diese liefen in Fantasie-Uniformen oder in deutschen Fliegeruniformen herum, trugen eine Armbinde mit der Aufschrift »český partizán« und gebärdeten sich als Sieger, obwohl sicher kaum einer der jungen Leute je eine Feindeskugel pfeifen gehört hatte. Auch Oberstleutnant Sucharda, der bis 1938 die Winterberger Garnison befehligte und dessen Gattin als Klavierlehrerin und stellvertretende Leiterin an der städtischen Musikschule tätig gewesen war, erschien in Winter berg mit einer Armbinde, die ihn als »Partisanen-General« auswies. Er hatte es in Prachatitz zum Vorsitzenden des okresní národní výbor, des Nationalen Kreisausschusses, gebracht.
Die tschechische Polizei hatte sich im Gasthaus »Stadt Wien« eingerichtet. Ihr Chef war der Fleischer Bursa. Von hier aus schwärmten Gendarmen, Hilfspolizisten und Partisanen aus, um systematisch die Wohnungen der Deutschen zu durchsuchen. Es kam zu vielen Verhaftungen von Winterberger Männern und Frauen. Das Gefängnis war stets Überfüllt.
Alle Rundfunkempfänger waren konfisziert worden. Die deutschen Straßenschilder wurden durch tschechische ersetzt. Und so mancher amüsierte sich im Stillen, wenn ihm bewusst wurde, dass anstelle der braunen Diktatoren nun die roten hoch im Kurs standen, wie die neue "Stalinova třída« bewies.
Während die Versorgung der tschechischen Bevölkerung in den Kriegsjahren im Protektorat besser war als sonst irgend wo im Herrschaftsbereich des NS-Staates, dankten das die hasserfüllten tschechischen Machthaber damit, dass sie der deutschen Bevölkerung nunmehr Lebensmittelkarten zuteilten, die in keiner Weise den allernötigsten Bedarf für das lebensnotwendige Minimum deckten. Dies bezog sich sowohl auf die Menge als auch auf die Art der genehmigten Lebensmittel, von denen die wichtigsten ausgeschlossen waren. Da längst alle Vorräte aufgebraucht waren und niemand auch nur die geringste Möglichkeit hatte, sich zusätzlich für Kinder oder Kranke etwas zu besorgen, versammelten sich die verzweifelten Frauen, an ihren gelben Armbinden mit dem großen „N“ als Deutsche gekennzeichnet, vor dem Rathaus, um für eine Aufbesserung der Rationen zu demonstrieren. Einige mutige Frauen trugen dem Vertreter der amerikanischen Stadtkommandantur und dem des narodní výbor ihr Anliegen vor. Sie wurden dabei durch lautstarke Proteste aus der Menge unterstützt, die den halben Kirchplatz füllte. Nach einiger Zeit riegelten "Partisanen« die Zugänge zum Ringplatz ab. Andere trieben mit gezogener Waffe die Frauen auseinander und drängten sie vom Platz in die Kirchengasse und die Steinbrenergasse ab. Es
ist nicht bekannt, ob die Aktion der tapferen Winterbergerinnen einen Erfolg gezeitigt hat; es dürfte aber einer der wenigen, wenn nicht der einzige Fall gewesen sein, wo es damals Deutsche gewagt haben, gegen Maßnahmen der „Sieger“ in der Öffentlichkeit zu protestieren.
Quelle: Hans Harwalik – Fritz Pimmer (Hrsg.), Winterberg im Böhmerwald, Freyung 1995, S. 538 – 550.