Prager Frühling und die Besetzung der Tschechoslowakei
Als Alexander Dubček am 5. Januar 1968 das Amt des Parteichefs der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei übernahm, war das bereits ein Eingeständnis an die schon länger andauernden Reformwünsche der Tschechoslowaken. Der liberale Kommunist wollte einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ durchsetzen, quasi die Freiheit im Kommunismus. Der so genannte Dritte Weg fand auch im Ausland viele Anhängerinnen und Anhänger. Die Reformkommunisten setzten Presse- und Versammlungsfreiheit, mehr demokratische Strukturen und die Aufhebung der Zensur durch. Das alles sollte im Verbund mit der Sowjetunion und ohne Abwendung vom Sozialismus geschehen.
Aufbruchsstimmung ergriff die Tschechoslowakei. Viele unterstützen die neuen Ereignisse oder verfolgten sie mit großer Anteilnahme. Im Ausland nahm man diesen „Prager Frühling“ ebenso wahr. Politikerinne und Politiker aus dem Westen verfolgten die friedliche Öffnung der Tschechoslowakei mit – wie sich später zeigte – berechtigter Skepsis.
Die Staaten des Warschauer Paktes befürchteten, dass die Reformstimmung auf ihre eigenen Länder übergreifen könnte und setzten Dubček unter Druck. Auf einem geheimen Treffen im März 1968 beschlossen sie, das „kontrarevolutionäre“ Treiben zu beenden und bereiteten den militärischen Einmarsch in die Tschechoslowakei vor.
Am 21. August 1968 wurde der Prager Frühling durch den Einmarsch der insgesamt 500 000 bis 650 000 Mann starken Truppen aus der Sowjetunion, Polen, Bulgarien, Ungarn und der DDR gewaltsam beendet. Die tschechoslowakische Armee zählte damals kaum die Hälfte.
In Bergreichenstein (Kašperské Hory) stellten sich am 21. August 1968 tschechoslowakische Armeeeinheiten gegen die Invasion der sowjetischen Truppen. Sie beschlossen, die Besatzer nicht in ihre Stadt zu lassen und bezogen rund um die Stadt Stellung. Die Belagerung blieb tatsächlich außerhalb der Stadt und die Belagerer bezogen die Bergreichensteiner Soldaten nicht in ihre Arbeit ein. Ein kleiner Triumph im Grenzgebiet.
Die sowjetischen Besatzer hatten durch Beschuss den westböhmischen Fernsehsender Krašov bei Pilsen zerstört. Im grenznahen Gebiet konnte westdeutsches Fernsehen und somit auch die „Tagesschau“ empfangen werden. Bilder vom Widerstand und von Toten und Verletzten kamen in die Wohnzimmer der Grenzbewohner. Ein mutiger Fotograf aus Bergreichenstein stellte seine Aufnahmen aus Prag im Schaufenster des hiesigen Lebensmittelladens aus.
In Bergreichenstein unterschrieben 1.368 Menschen eine Petition an den Kommandanten der Besatzungstruppen. Darunter waren auch Touristinnen und Touristen aus der Bundesrepublik. In vielen Betrieben fanden Proteste gegen die Besatzer statt. Streiks brachen aus, Unterschriften wurden gesammelt.
Dubček und die Parteiführung wurde nach Moskau ausgeflogen, wo er zur Aufgabe seiner Reformen gezwungen wurde. Die tschechoslowakische Bevölkerung leistete im ganzen Land weitestgehend gewaltfreien Widerstand. Sie verdrehten Hinweisschilder, damit die Besatzer sich nicht zurechtfinden würden, stellten sich vor Panzer, diskutierten mit den Soldaten. Im Jahr 1969 verbrannten sich die Studenten Jan Palach und Jan Zajíc aus Protest gegen den Einmarsch.
Rund 150 Menschen fielen der militärischen Intervention zum Opfer. Viele Tschechinnen und Tschechen sowie Slowakinnen und Slowaken emigrierten oder kamen erst gar nicht mehr aus dem Ausland zurück. Im Jahr 1968 wurden allein an der bayerischen Grenze 111 gelungene Fluchten registriert. Die Grenzpolizei war seit dem 21. August in ständiger Alarmbereitschaft. Die Panzer der Sowjetarmee hielten sich aber in gebührendem Abstand zur Grenze. Schließlich wollte man die Tschechoslowakei einschüchtern und nicht den Westen provozieren. Eine militärische Intervention zu Gunsten der Reformbewegung lehnte der Westen ab. Es sollte kein Krieg provoziert werden. Die Grenzabfertigung vollzogen weiterhin tschechoslowakische Beamte. Sie hissten nach dem Ende des „Prager Frühlings“ aus Enttäuschung auf Halbmast.
„Mitteilungen aus dem Nachbarland“
Politikerinnen und Politiker veranlassten die Grenzpolizei zur verstärkten Befragung von zurückkehrenden Reisenden aus dem Ostblock. Sie gaben Auskunft über Truppenbewegungen der sozialistischen Nachbarstaaten der Tschechoslowakei, über die Stimmung im Nachbarland oder über Medienberichte, die sie während ihres Aufenthaltes in der Tschechoslowakei verfolgen konnten.
Aus den fernschriftlichen Berichten, „Betreff: Grenzlage-Einzelmeldung/Mitteilungen aus dem Nachbarland“, an das Präsidium der Bayerischen Grenzpolizei
Quelle: Hauptstaatsarchiv München: Präsidium der Bayerischen Grenzpolizei 1170
23. März 1968, aus den Aussagen zweier Niederländer, die bei Marktredwitz über die Grenze nach Bayern kamen:
„Die Bevölkerung in der CSSR nimmt am politischen Geschehen regen Anteil. Überall sieht man freudige Menschen. An den Zeitungskiosken stehen oft bis zu 80 Personen an, um die neuesten Tageszeitungen zu erhalten. Die Bevölkerung von Prag ist sehr optimistisch gestimmt und glaubt, dass sich der politische Umschwung sehr vorteilhaft für sie auswirken wird. An ein Eingreifen der Sowjets glaubt niemand, da der derzeitige KP-Chef Dubcek mit sehr viel Geschick die Umgruppierung in der Partei führt. Auch bringt er in seinen Ansprachen immer wieder zum Ausdruck, dass das Verhältnis zur Sowjetunion keine Änderung erfährt.“
7. April 1968, aus der Aussage eines Bürgers der Bundesrepublik, der bei Furth i. Wald/Schafberg über die Grenze nach Bayern kam:
„Mit der von mir betreuten katholischen Jugendgruppe aus Königstein weilte ich 11 Tage in der CSSR bzw. in Prag. Die Mitglieder der Jugendgruppe hatten in Prag drei Diskussionsabende mit tschechoslowakischen Jugendgruppen. Ich war erstaunt, wie frei und ungezwungen die tschechoslowakischen Jugendlichen alle angesprochenen Themen diskutierten. Bei meinem letzten Besuch in der Tschechoslowakei im Januar 1968 war so etwas noch unmöglich. […]
Bei meinem jetzigen Besuch in der CSSR habe ich auch festgestellt, dass sich im Gegensatz zu früher nur sehr wenige Besucher der Ostzone [DDR] in Prag aufhalten. Von Bekannten habe ich erfahren, dass Kurzreisen von DDR-Bewohnern in die CSSR immer noch unterbunden sind. Längere Reisen dagegen sind erlaubt. Den Rückkehrern aus der CSSR werden an der Grenze von DDR-Grenzorganen alle tschechoslowakischen Zeitschriften abgenommen.“
19. Mai 1968, aus den Aussagen eines Beamten, der auf Besuch in der SBZ [Sowjetische Besatzungszone, meint die DDR] war, gegenüber der Grenzpolizei in Passau:
„An der Grenze zur CSSR ist sehr viel Militär zusammengezogen. In der Hauptsache handelt es sich dabei um Truppen der Roten Armee. Im Raume Chemnitz und Dresden war zu beobachten, dass russische Truppen mit Panzern und Raketen in Richtung Grenze zur CSSR in Bewegung waren. In Görlitz wimmelte es von russischen Truppen. Bürger der SBZ dürfen bald nicht mehr in die CSSR reisen, weil die Grenzkontrollen der Tschechen in Richtung Bayern sehr gelockert erscheinen. Es soll schon mehreren Personen gelungen sein, über die CSSR in Richtung Bayern zu entkommen.“
21. Mai 1968, Aussagen zweier Bürger der Bundesrepublik, „die sich vier Tage in Prag (Praha) aufgehalten haben. Dort waren sie von einem tschechoslowakischen Ingenieur als Reiseführer begleitet worden. Dieser vertraute ihnen an, die UdSSR soll an den Grenzen ihres Einflussbereiches zur CSSR motorisierte Infanterie- und Panzereinheiten in Bereitstellung haben und nur auf eine geeignete Gelegenheit zu einer militärischen Intervention in die Angelegenheiten des tschechoslowakischen Staates warten. Es würden bewusst herbeigeführte Provokationen befürchtet. Ein tschechoslowakischer Staatsangehöriger äußerte, am vergangenen Sonntag (19.5.68) seien zahlreiche Studenten durch Prag gezogen. Sie trugen Spruchbänder, deren Texte den Besuch des sowjetischen Ministerpräsidenten und allgemeine Einmischung der Sowjetunion in innere Angelegenheiten der CSSR anprangerten.“
23. Mai 1968, „wie tschechoslowakische Reisende, die am 23.5.68 über den Grenzübergang Waidhaus, Landkreis Vohenstrauß, einreisten, berichteten, soll in den unteren Schichten der tschechoslowakischen Bevölkerung Unruhe und Angst herrschen, weil sie fürchten, dass sie ihre erst gewonnenen Freiheiten wieder verlieren könnten.“
7. Juni 1968, „Deutsche, die sich mit Angehörigen aus der SBZ in Prag trafen, erfuhren von diesen, dass sie bei ihrer Reise in die CSSR am Länderdreieck Zittau in Manövertruppen geraten sind, die den gesamten Verkehr behinderten. Auch die Straßendecke war z.T. von Panzerketten erheblich beschädigt. Anhalten und Aussteigen war den Reisenden in dieser Zone verboten. An den Manövern sollten sich außer sowjetzonalen, polnischen und russischen, auch tschechoslowakische Einheiten beteiligt haben. [...]
Die tschechoslowakische Bevölkerung ist gegenüber dem neuen Regime sehr misstrauisch, weil man annimmt, dass der weichere Kurs einer Explosion der unzufriedenen Schichten zuvorkommen sollte.“
Reaktionen der bayerischen Bevölkerung
Die bayerische Bevölkerung nahm regen Anteil an der Entwicklung des Nachbarlandes. In Passau organisierte die Katholische Jugend eine Unterschriftenaktion gegen den Einmarsch in die Tschechoslowakei.
Zwei Tage nach der Besatzung des Landes wurde in Passau eine Gedenkminute unter dem Motto „Freiheit für die CSSR“ eingelegt.
Zeitungsartikel
In der Rubrik Schriftquellen finden Sie weitere Zeitungsartikel aus der Passauer Neuen Presse aus der Zeit vom 22. - 31. August 1968 zu Ereignissen in der Tschechoslowakei und an der bayerisch-tschechoslowakischen Grenze.