Ankunft in Bayern
Situation 1945
Bei Kriegsende im Mai 1945 lebten bereits 734 000 Flüchtlinge und Evakuierte in Bayern, die vor den Gräuel des Krieges und den herannahenden Truppen geflohen waren. Die Situation in Nachkriegsdeutschland war chaotisch, viele Städte zerstört waren und eine demokratische Ordnung war noch nicht hergestellt. In den folgenden Wochen und Jahren sollten insgesamt 1 924 000 Flüchtlinge nach Bayern strömen (Volkszählung 1950). Die größte Gruppe unter ihnen waren die Sudetendeutschen mit 1 025 000 Flüchtlingen in Bayern.
Zuerst mussten Rotes Kreuz, Caritas und Arbeiterwohlfahrt die Versorgung der Flüchtlinge übernehmen. Die Nachkriegssituation ließ noch keine andere Lösung zu. Erst im Jahr 1946, als die Umsiedlungen nach dem Potsdamer Abkommen stattfanden, hatten sich die staatlichen Stellen auf die Situation so weit es ging eingerichtet. Zum Beispiel wurden Schuhe aus den Heeresbeständen an die Flüchtlinge verteilt. Besonders was die Kleidung anging, herrschte großer Mangel.
Die meisten Flüchtlinge mussten über eines der 1381 Flüchtlingslager (Stand 1946 in Bayern) aufgenommen werden und konnten erst danach an andere Orte verteilt werden.
Die Aufteilung der Flüchtlinge sollte in vom Krieg wenig zerstörte Gebiete erfolgen. In Bayern waren das Oberfranken, Oberpfalz und Niederbayern. Dies waren aber gleichzeitig die strukturschwächsten, d.h. die Gebiete, in denen am wenigsten Industrie und Arbeit anzutreffen waren.
Willkommen in Bayern?
Das Verhältnis zwischen den Neuankömmlingen und den Einheimischen untersuchten 1950 zwei Wissenschaftler. Sie fragten die Bayern, ob die Flüchtlinge eine Belastung oder Störung des gewohnten Lebens darstellten. 50% bejahten, 39% verneinten, 11% sagten, dass vereinzelte störten. 60% der Zwangsausgesiedelten in Bayern waren laut einer Umfrage in der amerikanischen Besatzungszone nicht mit ihrer Erstaufnahme durch die örtliche Bevölkerung zufrieden.
Tagebucheintrag von Helma Keller am 12. Mai 1945, die mit einer Schülergruppe über die tschechisch-bayerische Grenze flüchtet:
„5.6. Wir sind endlich in Bayern! Wir werden als "Nemci" nicht mehr gefährdet sein. Unser Jubel erfährt aber alsbald Grenzen. Die Flüchtlinge werden von einem katholischen Geistlichen in Empfang genommen und an die nächste Verpflegungsstelle weitergeleitet. Als ich mit meinem Häuflein ankomme sagt er wörtlich: "Für Nazis haben wir nichts übrig!" - Das müssen meine erzkatholischen Kinder erst verdauen. Wir gehen trotzdem mit der großen Masse über Pfrentsch nach Waidhaus. Dort ist in der Schule eine Verpflegungsstelle.“
Quelle: Sudetendeutsches Archiv München
Es herrschte eine relativ hohe Ablehnung unter der Ursprungsbevölkerung. Der Staatskommissar für das Flüchtlingswesen Jaenicke erteilte die Erlaubnis, Einweisungen von Flüchtlingen in beschlagnahmten Wohnräumen mit Hilfe der Polizei vorzunehmen, um dem latenten Fremdenhass gegenüber den Flüchtlingen entgegenzuwirken.
Es gab aber auch konfliktfreie Aufnahmen in Bayern, von denen Mathilde Kreitmaier in ihren Kindheitserinnerungen nach der Vertreibung aus Sablat, Kreis Prachatice, bei der Ankunft in Untermaxfeld, westlich von Ingolstadt, schreibt:
„Wiederum eine Woche später wurden wir zusammen mit etwa 30 anderen Leidensgenossen auf einen offenen Lastwagen verfrachtet und nach Untermaxfeld im Donaumoos gebracht. Mittlerweile schrieb man den 1. Juli. In dieser flachen und für uns daher ungewohnten Gegend mit schwarzer Moorerde war uns recht bange nach den vertrauten Böhmerwaldbergen. Wir ahnten nicht, daß Untermaxfeld auf einige Jahre unsere neue Heimat werden sollte, denn wir klammerten uns an die Hoffnung, bald wieder in unsere Heimat zurück zu dürfen. Im Saal des Dorfwirtshauses wurden wir einquartiert. Auf dem Fußboden war reichlich Stroh aufgeschüttet, auf welchem wir erstmals nach vielen Tagen tiefen und erholsamen Schlaf fanden. Die Wirtin war - was damals keine Selbstverständlichkeit war - eine gutherzige und freundliche Frau.“
Quelle: Mathilde Kreitmaier geb. Thuma. „Kindheit und Vertreibung“, In: Kieweg, Herbert: „Weasch’n, Wusch’n und Gulatsch’n. Die Pfarrei Sablat in Geschichte und Geschichten“, 1994.
Ein weiteres Problem waren die Arbeitsbedingungen. Die Mehrzahl der Flüchtlinge musste, in Bayern angekommen, in der Landwirtschaft arbeiten, was vielen fremd war. In ihrer Heimat waren sie anderen Berufen nachgegangen.
Auguste Eppinger-Unterrainer erlebt als Kind die Ankunft in Bayern:
„Vater entschloß sich um den Zuzug in den Landkreis Passau anzusuchen. Dieser war gesperrt, aber Pfarrkirchen hat noch Familien aufgenommen und wir bekamen dorthin Zuzugserlaubnis. Wir mußten im "Rottaler Hof" nochmals ins Lager gehen und erst kurz vor Weihnachten ist uns eine Wohnung in Brandstat zugewiesen worden. Über drei Monate unterwegs, von dem vertrauten Daheim in die Fremde! - Dort haben uns die Leute schief angeschaut, aber wie sie gemerkt haben, daß wir arbeitswillige Leute sind, hat sich ihre kühle abweisende Haltung doch bald geändert.“
Quelle: Auguste Eppinger-Unterrainer: „Erlebtes – Erlittenes. Ausweisung der Familie Damian Eppinger ("Mikschler") OSchn“, In: „Die Schneedörfer und Orte der Umgebung in Böhmerwald“, Augsburg 1988, S. 316.
Häufig konnten die Vertriebenen auch auf Grund der mangelnden Kleidung und Schuhwerk nicht der ihnen zugeteilten Arbeit nachgehen. Die bayerischen Bauern waren enttäuscht, hatten sie sich doch Hilfe in der Landwirtschaft erhofft. Die Konflikte kamen durch das Aufeinandertreffen einer agrarisch geprägten bayerischen Gesellschaft und den hoch qualifizierten Vertriebenen. Die für die Einheimischen anfangs unliebsame Veränderung führte aber zu einem Aufblühen der bayerischen Wirtschaft.
Die Flüchtlinge brachten vielfach besondere Produktionsfähigkeiten mit: Spitzenklöpplerei, Herstellung von Strümpfen, Hüten, Glas oder Schmuckwaren. Es wurde versucht, die Flüchtlinge nach „gesellschaftlichen Funktionskreisen zu ordnen“, um ihnen einen wirtschaftlichen Aufbau zu ermöglichen. Ein besonderer Fall war die böhmische Glasindustrie, die viele Deutsche in der Tschechoslowakei betrieben hatten. Die ehemaligen Bewohner von Gablonec/Gablonz in Nordböhmen gründeten in Bayern neue Siedlungen. In Niederbayern war es Zwiesel, das viele Vertriebene, die sich auf die Glasindustrie spezialisiert hatten, beheimatete. 1949 waren in Zwiesel rund 90 Flüchtlingsbetriebe, d.h. von Vertriebenen, hauptsächlich aus Böhmen, in Zwiesel gegründete Firmen oder Geschäfte, diese schufen wiederum Arbeitsplätze. Viele Glasmacher zogen nach Zwiesel.
Die Religionszugehörigkeit erschwerte den Zugezogenen die Eingliederung. In Niederbayern kam es durch die Vertriebenen zur Veränderung der Konfessionsverteilung. 1939 waren hier noch 98% katholisch. Der Anteil der Katholiken fiel bis 1950 auf 88%. Wobei weniger die zu 90% katholischen Sudetendeutschen als die überwiegend protestantischen Deutschen aus der sowjetisch besetzten Zone verantwortlich waren. In Bayern änderten die Neubürger nichts an der Konfessionsverteilung.
Politische Hilfsversuche
Rund 21% der Einwohner Bayerns kamen aus den östlichen Gebieten Europas. Der Freistaat Bayern fördert die Integration der Vertriebenen in vielerlei Hinsicht. Hier einige Beispiele der staatlichen Unterstützung:
1946 Flüchtlingsausweise
Die Ausgabe von Ausweisen an die Flüchtlinge wurde im April 1946 beschlossen. Dabei wurde zum ersten Mal eine Definition für die Begriffe „Flüchtlinge" und "Ausgewiesene" gegeben: Als Flüchtlinge galten demnach „alle Personen deutscher Staats- und Volkszugehörigkeit, die bis 1.1.1945 ihren Wohnsitz außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches (Stand 1938)“ hatten, sowie „alle Personen deutscher Staats- und Volkszugehörigkeit, die bis zum 1.1.1945 in den deutschen Ostprovinzen östlich von Oder und Neiße“ lebten.
Der Flüchtlingsausweis legitimierte dazu, Anträge um Unterstützung bei den Behörden zu stellen und half, ihre genaue Zahl festzustellen, um diesen eine angemessene Betreuung zukommen zu lassen (z.B. Lebensmittelkarten).
Konkret: Eine Familie mit vier Kindern, das älteste elf Jahre alt, erhielt laut Flüchtlingsausweis vom 25. April 1946 in einer ersten Bezugsscheinausgabe die Berechtigung für folgende Dinge:
Je 1 Hemd, 1 Unterhose, 1 Anzug/Kleid und ein Paar Schuhe
5 Wolldecken
1 Kleiderbürste
Möbelbezugsschein für 1 Küchenbüffet, 1 Schlafzimmer, 6 Sessel, 6 tiefe und 6 flache Teller, 6 Tassen und Untertassen, 1 Kaffeekanne, 1 Schlüssel, 1 Milchtopf
1 Notofen
vor Weihnachten 1946: 1 Paar Strümpfe, 1 weitere Wolldecke, 1 Kostüm, 5 Regenmäntel, 8m Schürzenstoff, 4m Kinderkleiderstoff, 12m Leibwäschestoff, 3 Kinderpullover, 1 Paar Hausschuhe
Am 19. Februar 1947 trat das Bayerische Flüchtlingsgesetz als Vorreiter anderer Flüchtlingsgesetzen der anderen Länder und der Bundesregierung in Kraft. Es galt als Festsetzung der staatlichen Verpflichtung, sich um die Belange der Flüchtlinge zu kümmern und die Verpflichtung der Flüchtlinge, sich um Integration zu bemühen.
1948 Flüchtlingsproduktivkredit
Darlehen sollten ebenfalls den schnellen Wiederbeginn von Betrieben und Arbeitsplätzen sichern. Eine große Zahl von Selbstständigen unter den Vertriebenen wollte ihre selbstständige Tätigkeit in Deutschland wieder aufnehmen. Den Banken konnten sie aber keine Sicherheiten bieten. Der Bayerische Landtag stellten mehrere Millionen Reichsmark als Kredit zur Verfügung
März 1950: Der Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) wird in Bayern gegründet. Die neue Partei wollte ihre Stimmen unter den Heimatvertriebenen in Bayern holen, die 21% der Bevölkerung stellten. Die Integration war etwa um 1962 erfolgreich abgeschlossen, was man am Ausscheiden des Blocks der Heimatvertriebenen aus dem Landtag ablesen kann.
1952 Lastenausgleichsgesetz
Dieses war eine Sondersteuer auf das Vermögen der Einheimischen. Aus diesen Mitteln erhielten die Vertriebenen Entschädigungszahlungen für ihre Verluste, um die Gefahr des politischen Radikalismus zu bekämpfen und um die Identifizierung der neuen Bürger mit dem Staat zu fördern.
In der Präambel des Lastenausgleichsgesetzes heißt es: „In Anerkennung des Anspruchs der durch den Krieg und seine Folgen besonders betroffenen Bevölkerungsteile auf einen die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit und die volkswirtschaftlichen Möglichkeiten berücksichtigenden Ausgleich von Lasten und auf die zur Eingliederung der Geschädigten notwendige Hilfe sowie unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, dass die Gewährung und Annahme von Leistungen keinen Verzicht auf die Geltendmachung von Ansprüchen auf Rückgabe des von den Vertriebenen zurückgelassenen Vermögens bedeutete, hat der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates das nachstehende Gesetz beschlossen“.
Teil des Lastenausgleichs war auch die „Wohnungshilfe“. In Bayern gab es 245 500 eingereichte Anträge, von denen 192 380 bewilligt wurden. Das Land Bayern erhielt zur Wohnraumhilfe insgesamt 808,4 Millionen DM. Als Aufbaudarlehen für den Wohnungsbau wurden insgesamt 831,7 Millionen DM bewilligt.
Ein weiterer Lastenausgleichspunkt war die „Hausratsentschädigung“. Sie sollte den Mangel an Einrichtungsgegenständen beheben. Da die Vertriebenen keinen Nachweis über ihren Verlust hatten, wurde die Höhe des Verlustes auf Grundlage des Familieneinkommens aus den Jahren 1937-1939 errechnet. In der BRD wurden so 6,2 Millionen Betroffene mit einer Hausratsentschädigung von insgesamt 6,8 Milliarden DM entschädigt.
Für die „Ausbildungshilfe“ des Lastenausgleichsgesetzes standen bis 1962 insgesamt 154 Millionen DM zur Verfügung, z.B. für Kinder und Jugendliche, deren Eltern ihnen sonst keine Ausbildung bezahlen hätten können. Die „Kriegsschadenrente“ richtete sich an Alte und Arbeitsunfähige.
Der Bayerischen Staatsministers für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Fritz Pirkl (geb. 1925, gest. 1993), resümierte das Gesetz: „Die finanziellen Leistungen des Lastenausgleichs haben sich für Bayern sehr positiv ausgewirkt. Im Freistaat wurden bisher ca. 12 Milliarden DM an Mitteln für den Lastenausgleich aufgebracht, nach Bayern sind aber umgekehrt ca. 18 Milliarden DM Gesamtleistung aus dem Lastenausgleich geflossen. Der positive Lastenausgleichssaldo von ca. 6. Milliarden DM hat wesentlich zur relativ reibungslosen Eingliederung der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge sowie zur nachhaltigen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Bayerns beigetragen. Über 4000 neu geschaffene Vertriebenen- und Flüchtlingsbetriebe, umfangreiche Leistungen aus der Hauptentschädigung, der Hausratentschädigung, der Kriegsschadenrente sowie dem Währungsausgleich für Sparguthaben Vertriebener und nach dem Altsparergesetz waren ein wichtiger Motor beim Wiederaufbau Bayerns. Der Lastenausgleich als ein großer Akt der Solidarität zwischen den vom Krieg unterschiedlich hart betroffenen Bevölkerungsgruppen hat seine Aufgabe in vollem Umfang erfüllt und dazu beigetragen, dass unsere Heimatvertriebenen auch gute Bayern geworden sind.“
Quelle: Bay. Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.): „Lastenausgleich in Bayern. Kriegsfolgen- 30 Jahre Arbeit für die Geschädigten“, 1978.
1995 ist die Frist für Anträge auf Antragstellung für Lastenausgleich abgelaufen.
1954 übernahm der Staat Bayern die Schirmherrschaft über die Sudetendeutschen. Einzelne Städte und Gemeinden übernahmen die Patenschaft für die Herkunftsgebiete der Vertriebenen Die Karte zeigt einige dieser Patenschaften.
Angekommen in Bayern?
Die Verarbeitung und der Integrationswille hingen unter anderem vom Alter der Betroffenen und ihrer neuen Situation im Aufnahmeland ab. Älteren fiel es schwerer, sich zu integrieren, sie hatten Heimweh, konnten sich nur langsam an die neue Umgebung gewöhnen.
In einer Erhebung des Bayerischen Statistischen Landesamtes im Jahr 1949 gaben 47,6% der Sudetendeutschen an, in ihre alten Wohngebiete zurückkehren zu wollen. Diese Sehnsucht konnten viele jahrelang nicht einmal mit Besuchen stillen. Bei Besuchen in der „alten Heimat“ mussten viele ansehen, dass ihre Häuser oder ganze Dörfer dem Abriss für die Sperrzone des sozialistischen Nachbarn zum Opfer gefallen waren.
Ein Vertriebener berichtet von seinem ersten Besuch in seiner Heimatstadt Kuschwarda in den 60ern:
„Wir blickten in die alte Heimat. Schon zu Anfang der Sechzigerjahre waren erste Besuche in den Böhmerwald möglich. Viele der Vertriebenen wollten die Stätten ihrer Heimat, des ehemaligen Lebensraumes sowie die Friedhöfe ihrer verstorbenen Angehörigen aufsuchen. Die Einreise war nur mit einem Visum und über den Grenzübergang Freystadt/ Wullowitz möglich. Dabei mussten verschärfte Kontrollen und unpersönliche Anweisungen des tschechischen Grenzpersonals oftmals in Kauf genommen werden. Beim Ankommen in den Heimatorten - viele konnten nicht mehr gefunden werden - waren bei den meisten Besuchern Tränen, Zorn und Verbitterung oft nicht zu umgehen. Nachstehend einige Aufzeichnungen dieser Erlebnisse:
"Nach einer langen Fahrzeit über Eisenstein erreichten wir Kuschwarda und meine zwei Buben wollten etwas zu essen. Nur das Hotel Schwarzenberg war geöffnet, aber von Soldaten und Zigeunern überfüllt. Alle sprachen sie tschechisch und ich hatte große Angst, als Deutsche erkannt zu werden. Von unserem Haus waren nur mehr einige Grundmauern und die Johannisbeersträucher zu sehen. So gingen wir auf die Steinbergkapelle und ich war froh, zwei Frauen zu begegnen, die ebenfalls ihre Heimat aufgesucht hatten. Nach einem kräftigen Gewitter hellte sich der Himmel auf und ich glaubte beinahe, wieder daheim zu sein."
"Als wir den Schlagbaum hinter uns hatten, rieselte es uns kalt und heiß über den Buckel, denn es kam uns unglaubwürdig vor, in der alten Heimat zu sein. Wenn ich den Zustand des Landes auch genau beschriebe, es könnte sich ihn doch keiner richtig vorstellen: man muss das selbst gesehen haben."
"Wir fuhren nach Österreich, zur Grenze bei Freistadt und von da über die österreichisch-tschechische Grenze. Beim tschechischen Zollamt mussten wir 21/2 Stunden auf unser Visum warten. Es waren anfänglich nur etwa 6 bis 8 Autos an der Grenze, bis wir aber abgefertigt waren, konnte man die Autoschlange nicht mehr übersehen. Nun durften wir mit dem Auto den 1. Schlagbaum passieren, dann mussten wir wieder halten und wurden erneut kontrolliert. Nun erst durften wir zwei weitere Schlagbäume durchfahren."
"Wir machten mit unseren Kindern die erste Grenzbesichtigung ihres Lebens. Jetzt hatten sie, was sie bisher nur vom Erzählen her kannten, in ihrer ganzen Unbegreiflichkeit vor Augen - die "Grenze"; alle paar Meter weit die gleiche Tafel, den Schlagbaum, den Drahtzaun, den Wachturm mit MG-bewaffneten Posten, Grenzpolizei, Heimat und Feindesland zugleich. Keine versöhnliche Geste, kein freundliches Wort, nur Gefahr. Wir wandten uns ab vom Unabwendbaren."
"Ja, es ist schon schön, die alte Heimat wieder zu sehen, aber wie es dort aussieht, das schneidet arg ins Herz. Ich muss sagen, gerne fuhren wir wieder über die Grenze zurück."
Quelle: „Pfarrgemeinde Kuschwarda in Böhmerwald“, Tittling 1996, S. 339.
Viele Vertriebene verloren nach der kommunistischen Machtübernahme in der Tschechoslowakei den Wunsch, in ihre alte Heimat zurückzukehren. Sudetendeutsche waren die stärkste anti-kommunistische Kraft in Deutschland. Das motivierte die Amerikaner, das Koalitionsverbot im Jahr 1948 zu lockern und es 1950 aufzuheben, so dass neue Parteien und Verbände unter den Vertriebenen entstehen konnten. Zusammenschlüsse von Vertriebenen, wie zum Beispiel in der Ackermanngemeinde, hatten starken Einfluss auf die Integration der Vertriebenen in Bayern. Die Unzufriedenheit und die reale Not vieler Vertriebener führte aber auch zum Entstehen von Vertriebenenorganisationen, die radikalere Forderungen stellten, als es den liberaleren Kräften lieb war.
Die Integration, der wirtschaftliche Aufbau der Vertriebenen in Bayern gilt als sehr erfolgreich. Bereits in den 50er Jahren, spätestens jedoch in den 60er Jahren leben die Deutschen aus der Tschechoslowakei in ihren eigenen Häusern oder Wohnungen, haben Arbeit und sind fester Bestandteil der Gesellschaft. Im Jahr 1964 wollten laut einer Umfrage des Allensbacher-Instituts für Demoskopie lediglich 23% der Sudetendeutschen in die „alte Heimat“ zurückkehren, falls diese wieder zu Deutschland gehören würde. Und 66% der Vertriebenen in Bayern fühlen sich Mitte der 80er Jahre als voll anerkannte Mitglieder der Gesellschaft. Im Jahr 1984 gaben 84% der ehemaligen Winterberger an, „voll in der Bundesrepublik Deutschland“ integriert zu sein.
Erinnerung
Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung findet individuell oder aber in Gruppen mit anderen Vertriebenen statt. Treffen, Literatur und Zeitschriften gaben und geben ein Gefühl der Zusammengehörigkeit unter den Vertriebenen eines Ortes. So treffen sich beispielsweise die ehemaligen Winterberger in ihrer Patenstadt Freyung. In der Patenschaftsurkunde werden als Aufgaben die Pflege und das Sammeln von „heimatlichem Kulturgut“ genannt. Die Vertriebenen aus dem Böhmerwald publizierten zum Beispiel ihre Erinnerungen bzw. tauschten sich über ihr gemeinsam Erlebtes in Zeitschriften aus oder veröffentlichten Bücher bzw. Gedenkschriften. „Hoam“, „Glaube und Heimat“ und der „Böhmerwälder Heimatbrief“ sind Beispiele hierfür.
Eine 1940 geborene Budweiserin kommentiert die „Heimattreffen“:
„Mein Vater hatte mich gelegentlich auch zu den Heimattreffen der Sudetendeutschen mitgenommen. Ich fand sie ziemlich gräulich. Aber manche Familienmitglieder und auch Cousinen und Cousins in meinem Alter nahmen daran teil - und tun es teilweise auch heute noch. Ich fand es schlimm, dass dort in der Regel nichts anderes stattfand als das Jammern über erlittenes Unrecht, ohne jegliche Reflexion, ohne nach Gründen und Ursachen zu fragen. Es hat mich auch verstört, als meine Cousine mir schilderte, wie sie vor unserem Haus in Budweis gestanden und geweint habe und dabei so richtig zornig geworden sei. Ich sage damit natürlich nicht, dass ich die Vertreibung von Menschen aus ihrer Heimat für gut halte, und ich bedauere auch, dass uns das Haus nicht mehr gehört. Aber ich versuche mir klar zu machen, warum wir es verloren haben. Dass letztlich wir die Opfer und Betroffenen waren, ist eine Sache. Ich habe aber immer versucht, die Vertreibung im politischen Kontext zu sehen.“
Quelle: Wagnerová, Alena: „1945 waren sie Kinder“, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1990.
Es gibt auch Beispiele wo die Zusammenarbeit der tschechischen und der deutschen Seite zu einer gemeinsamen Gedenkstätte an die Vertreibung führte, so geschehen bei der Tussetkapelle: Sie steht im Böhmerwald, in der Nähe von Böhmisch-Röhren (České Žleby) - zur Gemeinde Stožec (Tusset) gehörend - und war Ziel von Marien-Wallfahrten. Nach der Vertreibung der Deutschen und der Einrichtung des Sperrbezirkes entlang der deutsch-tschechoslowakischen Grenze verfiel die Kapelle zusehends bzw. wurde sie zerstört. Auf Initiative Emil Webers entstand auf bayerischer Seite, in unmittelbarer Grenznähe in Philippsreuth, ein Abbild der böhmischen Kapelle, die 1985 eingeweiht wurde. Sie wurde zum „Gedenkstein zur Mahnung an das Unrecht der Vertreibung und an die verlorene Böhmerwaldheimat“ errichtet.
1988 begannen wiederum tschechoslowakische Bürger mit der Renovierung der alten Kapelle, die – entgegen allen Erwartungen an die politischen Entwicklungen - gemeinsam mit den bayerischen Pilgern im August 1990 eingeweiht werden konnte. Die Geschichte der Kapelle(n) ist auf der Homepage der Tussetkapelle dokumentiert.
Der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds unterstützt und fördert die deutsch-tschechischen Beziehungen, wozu auch die Finanzierung von Bauprojekten gehört. Auf der Homepage des Zukunftsfonds heißt es so: „Das gemeinsame Engagement früherer und heutiger Bewohner, der Kommunen und der Kirchen bei der Renovierung legt oft den Grundstein für eine dauerhafte Partnerschaft in der Zukunft. Die erneuerten Bauten sollen dabei ein Ort der Begegnung werden.“