Wiederbesiedlung
Situation 1945
Die nationalsozialistische Idee eines homogenen Staates schlug auf die deutsche Minderheit in der Tschechoslowakei nach Ende des Krieges zurück. Im Jahr 1945 lebten in der tschechoslowakischen Grenzregion 600 000 Tschechen und Angehörige anderer Nationalitäten als der deutschen (18%) und 2 725 000 Deutsche (82%).
Die Deutschen sollten das Gebiet verlassen. Die Ausweisung von Millionen Menschen aus den Grenzgebieten der Tschechoslowakei schuf ein Vakuum, freiwerdende Flächen, Häuser und Posten. In Zahlen ausgedrückt betrug dieses Vakuum 83% des deutschen Besitzes, der konfisziert worden war und 17% des Besitzes von Tschechen, die als Kollaborateure des Naziregimes oder als Verbrecher eingestuft worden waren.
Die Aussiedlung und die Wiederbesiedlung dieses Gebietes erfolgten gleichzeitig und begannen mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Besiedlung des Grenzgebietes war jedoch zum größten Teil schon 1947 beendet, als die Aussiedlung der Bürger deutscher Nationalität noch nicht abgeschlossen war.
Als Geburtsstunde der Besiedlungspolitik gelten die Gespräche Benešs mit den tschechoslowakischen Kommunisten in Moskau im Dezember 1943. Im so genannten Kaschauer Programm wurden Verhandlungen über die Besiedlung des Grenzgebietes geführt und am 19. Mai 1945 rechtlich verankert. Ab September 1945 regelten die so genannten Besiedlungsämter, zum Innenministerium gehörend und von Anfang an unter der Leitung eines Kommunisten, die Wiederbesiedlung. Die Ämter koordinierten bis 1950 die Durchführung der Aussiedlung, die Erarbeitung von Plänen für das Grenzgebiet, die Organisation von Zuwanderung aus dem Landesinneren und von Landsleuten aus dem Ausland. Besiedlungsämter gab es auch in Budweis (České Budějovice), Eger (Cheb) und Pilsen (Plzeň).
Verlauf der Wiederbesiedlung
Die Wiederbesiedlung verlief in drei Phasen:
- „Pionierzeit“ - unkontrollierte Neubesiedlung, bei der die Bewohner der Grenzregion bessere Möglichkeiten zum Besitzgewinn gegenüber den aus dem Binnenland Kommenden hatten. Sie dauerte von Mai bis September 1945. ca. 200000 Menschen kamen aus dem Binnenland in das Grenzgebiet.
- „Organisierter Besiedlungsprozess“ - ab September 1945 unter Leitung des Besiedlungsamtes.
- Vollendung der Neubesiedlung - Sommer 1946 bis Sommer 1947: In dieser Zeit sollten vor allem noch die gar nicht oder nur schwach besiedelten Gebiete "aufgefüllt" werden.
Die ersten Siedler, die so genannten Goldgräber (tsch. zlatokopové) oder „Kolonisten“, die sich durch die Propaganda angeheizt schnellen Reichtum und Besitz erhofften, verließen das Grenzgebiet relativ schnell wieder, da seit der kommunistischen Machtübernahme 1948 private Eigentumsbildung verhindert wurde und die Propaganda sie somit fehlgeleitet hatte.
In unmittelbarer Grenznähe des Böhmer- und Oberpfälzer Waldes wurde auf aktive Wiederbesiedlung verzichtet. Nach 1948 wurden hier systematisch Sperr- und Verödungszonen eingerichtet. (siehe auch: Grenzanlagen)
1946 und 1947 zogen verstärkt Roma aus der Slowakei in das tschechische Grenzgebiet. Insgesamt 9% der Neusiedler waren Slowaken. Bei den ca. 100000 Reemigranten handelte es sich um Menschen, die aus dem Exil oder als tschechischstämmig zurückgeholt wurden (40000 aus der Sowjetunion, 12000 aus Frankreich, 3000 aus Belgien, 10000 aus Polen, 5000 aus Deutschland, 5000 aus Rumänien, 10000 aus Österreich, 4000 aus Jugoslawien, 10000 aus anderen Ländern). Den Reemigranten wurden besondere Zuwendungen zuteil. Sie erhielten beispielsweise bei der Registrierung 500 Kronen (Kinder 300 Kronen), Kleidung und Kredite. Sie wurden aber von der Realität enttäuscht.
Zeitzeugenaussage von Rudolf Baier, der 1946 aus Ernstbrunn bei Krummau nach Furth i. Wald ausgesiedelt wurde. Er beschreibt sein Aufeinandertreffen mit den neuangesiedelten Slowaken:
"Nach dem Zusammenbruch im Mai 1945 wurde unser Ort von amerikanischen Truppen besetzt. Ernstbrunn war eine rein deutsche Ortschaft, nur der Besitzer der Glasfabrik war ein Tscheche. So lange das Gebiet von Amerikanern besetzt war, ging das Leben normal weiter. Im Juni übernahmen die Tschechen die Zivilverwaltung. Von diesem Momente an ging das Plündern durch tschechische Partisanen und Gendarmerie los. Sie gingen bei Tag und Nacht ungehindert durch die Wohnungen (die Türe durfte nicht verschlossen werden) und nahmen sich alles mit, was ihnen gefiel. Wenn einem Tschechen an einem Deutschen, der auf der Straße ging (wir trugen Armbinden als Erkennungszeichen), etwas gefiel, nahm er ihm das kurzerhand weg. Schuhe wurden auf offener Straße ausgezogen, die Taschen durchsucht, Geld, Uhren, Schmuck, auch Eheringe wurden von halbwüchsigen, schwer bewaffneten jugendlichen Tschechen abgenommen. Mein Bruder, dem man ebenfalls eine alte Silberuhr wegnahm und welcher bat, man möge ihm dieses Andenken an seinen Vater lassen, erhielt Schläge ins Gesicht, man nahm die Uhr und sperrte ihn in eine Holzscheune ein. Später kamen drei Tschechen, welche ihn furchtbar misshandelten. Vieh und Pferde wurden ebenfalls von Tschechen weggetrieben.
Die Bauernhöfe in der Umgebung wurden größtenteils durch Slowaken besiedelt, Leute, die sie bis aus den Karpaten herbeiholten. Es waren dies durchweg arme Slowaken aus dem Gebirge, welche zur Besiedlung des deutschen Gebiets gezwungen wurden und sich den Deutschen gegenüber weinend beklagten, dass man sie gezwungen hat, ihre Heimat zu verlassen. Obzwar die Slowaken ohne jedes Gepäck ankamen und ihnen versprochen wurde, dass sie fertige, eingerichtete deutsche Wirtschaften übernehmen werden, aus welchen die Deutschen freiwillig davongelaufen sind, haben die Tschechen doch vorher alles, was sie fortschaffen konnten, also Kleidung, Wäsche, Getreide, Handwerkszeug usw., fortgeschafft. Die Slowaken waren darüber entsetzt, dass sie bei der Vertreibung der Deutschen mithelfen sollen, und beteuerten den Deutschen gegenüber wieder, dass sie nicht daran schuld seien und dass sie gerne zu Hause geblieben wären.
Die Glasfabrik in unserem Ort hat über 300 Arbeiter, durchwegs Deutsche, beschäftigt. Die Fabrik steht still. Auf den früheren deutschen Bauerngütern mussten die früheren Eigentümer für die Slowaken, welche davon wenig verstanden, die Felder bestellen. Allerdings stehen noch immer viele Häuser und ganze Ortschaften vollkommen leer und sind bisher noch nicht besiedelt worden."
Quelle: Baier, Rudolf: „Bericht vom 7.8.1946, in: „Die Schneedörfer und Orte der Umgebung im Böhmerwald“, Augsburg 1988, S. 253-254.
Zentrale und regionale Behörden hatten nun die Aufgabe, eine aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen zusammen gewürfelte Gesellschaft zu stabilisieren. Dabei gelang es vielfach nicht, bei den Bewohnern ein Gefühl der Heimat zu entwickeln.
Auswirkungen
Die Besiedlungspolitik war verfehlt und überstürzt. Viele Betriebe gingen schnell wieder bankrott. Ganze Landstriche wurden nicht besiedelt und verwahrlosten.
Durchschnittlich waren rund 61% der im Mai 1947 in den Grenzgebieten lebenden Bevölkerung nach dem 1. Mai 1946 zugewandert. Die Deutschen konnten nicht überall zahlenmäßig ersetzt werden, deshalb lebten 1950 rund ein Drittel weniger Menschen im Grenzgebiet als im Jahre 1930.
Strukturschwache Regionen wie Süd- und Westböhmen hatten sogar über die Hälfte ihres Vorkriegsbevölkerungsstandes verloren. Hier siedelten sich weniger Menschen neu an. 500 Ortschaften wurden bis 1955 komplett „aufgegeben“ oder aufgelöst. 320 der in Tschechien als "untergegangen" bezeichneten Ortschaften befanden sich in Böhmen, davon 125 in den Bezirken Tachau (Tachov), Bischofteinitz (Horšovský Týn), Taus (Domažlice), Klattau (Klatovy), Schüttenhofen (Sušice), Winterberg (Vimperk), Prachtitz (Prachatice), Krummau (Český Krumlov).
Einige Gemeinden im Böhmerwald haben ihre dauerhafte Wohnfunktion nahezu verloren und bestehen größtenteils aus Zweitwohnsitzen, die meist nur am Wochenende genutzt werden. In der Gemeinde Außergefild ( Horská Kvilda) gab es nach den Angaben des Tschechischen Statistischen Amtes aus dem Jahr 1994 nur elf dauerhaft bewohnte Häuser, gegenüber 21 Ferien- oder Wochenendhäusern. In Rehberg (Srní)– beide Orte liegen im Bezirk Klattau – 55 im Vergleich zu 98, in Innergefind (Kvilda) im Bezirk Prachatitz 27 im Vergleich zu 39 und in Tusset (Stožec), auch im Bezirk Prachatitz 44 im Vergleich zu 62.
Die Aussiedlung der hoch qualifizierten deutschen Bevölkerung und die Wiederbesiedlung mit Bevölkerungsgruppen mit zum Teil unbrauchbarer Ausbildung stellten eine ungünstige Voraussetzung für die Entwicklung der Grenzregion dar. Die Auswirkungen der Entvölkerung der Grenzräume, wie etwa der enorme Verfall der Wohnungssubstanz, die nur extensive Nutzung ausgedehnter landwirtschaftlicher Flächen und der Untergang vieler Industriebetriebe, konnten bis heute noch nicht verwunden werden.
Die Aussiedlung begünstigte die Sowjetisierung der Tschechoslowakei. Die Neusiedler waren mehrheitlich Anhänger der Kommunistischen Partei, denn die hatte sich durch das Verteilen der deutschen Güter bei den neuen Bewohnerinnen und Bewohnern beliebt gemacht.
Der Schweizer Historiker Adrian von Arburg zählt zum „geistigen Erbe“ der heutigen Bewohner der Grenzregion das Bewusstsein, für die Zwangsaussiedlung mitverantwortlich zu sein oder zumindest aus ihr materiellen Vorteil gezogen zu haben, „ein latent schlechtes Gewissen“ also. Einem unverkrampften Miteinander steht das schlechte Gewissen der Zwangsausgesiedelten und der neuen Bewohnerinnen und Bewohner entgegen, so von Arburg.
Neben vielen lokalen Vereinigungen, die sich mit den "untergegangenen Orten" des Böhmerwaldes beschäftigen, sind zwei tschechienweit tätige Initiativen zu nennen: Der Verein Antikomplex beschäftigt sich mit den Veränderungen des tschechischen Grenzlandes und organisiert zahlreiche Bildungsprojekte mit Schulklassen und anderen Zielgruppen. Die Homepage von Zanikle Obce ("verschwundene Ortschaften") bildet ein umfassendes, von Nutzern geschaffenes Archiv mit historischen und zeitgenössischen Fotografien verschwundener Ortschaften in ganz Tschechien.