Der Fall Milan Čepek
- tragischer Tod eines jungen Grenzsoldaten auf der Flucht
Die Originalermittlungsunterlagen der bayerischen und tschechoslowakischen Behörden zum Fall Čepek finden Sie unter Unterricht & Materialien > Schriftquellen.
Ein Videointerview mit dem Stationsleiter der Bayerischen Grenzpolizei am Grenzübergang Philippsreut/Strážný, der im Rückblick über den Fall Čepek berichtet, finden Sie unter Unterricht & Materialien > Videos.
Milan Čepeks Fluchtversuchund seine Vorgeschichte
Milan Čepek wurde am 13. August 1949 in Vrchlabí im Bezirk Trutnov geboren. Er war tschechoslowakischer Staatsbürger von tschechischer Nationalität. Nach dem Abbruch seines Fachhochschulstudiums wurde er im Juli 1968 zum Grundwehrdienst in der Nähe von Klattau (Klatovy) eingezogen. Zunächst absolvierte er den Kochkurs der Kompanie. Im August 1968 nach den Aufständen des so genannten Prager Frühlings marschierten die Truppen der Warschauer Pakt-Staaten in der Tschechoslowakei ein. Daraufhin sollten die Soldaten der tschechoslowakischen Armee erneut den Eid ablegen, der jetzt um den Zusatz, dass man an der Seite der sowjetischen Armee und der Armeen der anderen sozialistischen Staaten agieren werde, ergänzt wurde. Dies lehnte Milan Čepek ab, denn er trat für die Unabhängigkeit der Tschechoslowakei ein. Im September 1968 entfernte er sich ohne Erlaubnis von seiner Militärgruppe und reiste zu seinem Bruder Josef, der in Prag Medizin studierte. Einige Tage später fuhr er – vom Bruder überredet – weiter nach Nymburk zu seinen Eltern. Sein Vater, der als Ermittler bei der Staatssicherheitspolizei tätig war, ging streng mit ihm ins Gericht und brachte ihn sofort zurück zu seiner Kompanie. Nach Klärung durch den stellvertretenden Etappenchef unterschrieb Milan Čepek schließlich die neue Fassung des Eides. Für seinen Desertionsversuch wurde er mit fünf Tagen Gefängnis bestraft und in eine andere Abteilung versetzt. Dort sollte er zum Buchhalter ausgebildet werden. Da er für eine solche Arbeit jedoch weder Talent noch Interesse zeigte, kam er – wahrscheinlich auch durch die Hilfe seines einflussreichen Vaters – zum Grenzschutzdienst. Dies entsprach schon eher den Wünschen des geborenen Abenteurers und Hundeliebhabers Milan Čepek. Am 16. November 1968 trat er zum ersten Mal den Dienst in der Grenzwache an. Das heißt, am 18. November, dem Tag seiner Flucht, war er zum dritten Mal im Dienst. An diesem Tag begann er seine Schicht um 6 Uhr morgens mit seinem Vorgesetzten, dem Unteroffizier Václav Smejkal. Wegen des dichten Nebels nahmen sie einen Standort im Raum Stará Řáska ein, der etwa 250 Meter von der Staatsgrenze entfernt war. Gemeinsam bewachten sie die Grenze, möglicherweise begaben sie sich auf einen Kontrollgang. Gegen 8:30 Uhr nutzte Milan Čepek einen günstigen Augenblick zur Flucht. Weit kam er allerdings nicht, denn ein Schuss aus der Waffe von Unteroffizier Václav Smejkal traf ihn tödlich. Am selben Tag gegen 11:15 Uhr wurde die Leiche Čepeks von einer bayerischen Zollstreife entdeckt. Der Fundort liegt auf dem Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland, nicht ganz 300 Meter von der Staatsgrenze entfernt im Grenzbereich Schnellenzipf, der zur Gemeinde Bischofsreut gehört, die sich wiederum im Landkreis Wolfstein in Niederbayern befindet. Die Ermittlungen und die Obduktion der Leiche wurden zunächst von der Kriminalaußenstelle in Passau durchgeführt. Später wurden Čepeks Leiche und alles, was er bei sich hatte, den tschechoslowakischen Behörden übergeben.
Die Ermittlungsergebnisse von tschechoslowakischer und bayerischer Seite
Die tschechoslowakischen Ermittler konnten sich bei der Untersuchung des Vorfalls auf die Aussagen der Kompaniekommandanten, denen Milan Čepek unterstellt war und natürlich auf das Verhörprotokoll des Schützen Václav Smejkal stützen. Unteroffizier Smejkal gab am 19. November 1968 Folgendes zu Protokoll:
Gemeinsam mit Milan Čepek trat er den Dienst am 18. November 1968 um 5:55 Uhr morgens an. Sie nahmen den Standort im Raum Stará Řáska ein und bewachten die Grenze. Die beiden jungen Männer waren zum ersten Mal gemeinsam im Dienst. Sie unterhielten sich über belanglose Dinge, wie beispielsweise ihre Zivilberufe. Milan Čepek erkundigte sich aber auch konkret über den Verlauf der Grenze und die Funktionsweise der Sperranlagen. Da Václav Smejkal die Aufgabe hatte, den ein Jahr jüngeren Čepek in den Dienst einzuführen, beantwortete er bereitwillig dessen scheinbar aus Interesse gestellten Fragen. Die ganze Zeit über herrschte dichter Nebel und die Sicht reichte nur 50 bis 100 Meter weit. Erst gegen 8:30 Uhr lichtete sich der Nebel langsam und die Sicht besserte sich. Daher rief Unteroffizier Smejkal mit einem Fernmelder den Kompanieaufseher Major Kotrba an, um eine Verlegung des Standorts auf den Beobachtungsturm bei Dolní Cazov vorzuschlagen. Während er telefonierte, ergriff Milan Čepek die Maschinenpistole, die Smejkal neben sich an die Dachstütze des Standorts gelehnt hatte. Nachdem Smejkal das Telefongespräch beendet hatte, zielte Čepek mit der Maschinenpistole auf ihn und befahl ihm, die Hände hoch zu heben. Čepek war nun im Besitz beider Maschinenpistolen. Die eine hatte er über die Schulter gehängt, mit der anderen zielte er fortwährend auf Smejkal. Mit erhobenen Händen ging Smejkal voran zum Signalzaun. Čepek war mit der Maschinenpistole dicht hinter ihm. Mit dem Fuß stieß Čepek den Durchlass im Signalzaun auf und wies Smejkal an, auf die andere Seite des Zauns zu gehen. Gemeinsam legten sie die Strecke von 250 Metern bis zum Grenzbach zurück. Dabei fragte Smejkal immer wieder, warum Čepek das mache und was er im Sinn habe. Čepek drohte, ihn zu erschießen und meinte nur, dass er nicht mit den "Scheißrussen" in der Tschechoslowakei bleiben wolle.
Am Grenzbach angekommen, überwindet Čepek schnell den Bach und damit die Staatsgrenze. Smejkal bittet ihn, ihm doch wenigstens seine Waffe zurückzuwerfen. Sie beide wissen, dass einem Soldaten, der seine Waffe verliert, eine Gefängnisstrafe droht. Nach Smejkals Versprechen nicht zu schießen, wirft Čepek eine der Maschinenpistolen zurück über den Bach und flüchtet schnell in den nahen Wald. Smejkal hebt sofort seine Maschinenpistole auf, die etwa 6 Meter von ihm entfernt gelandet ist und feuert einige Schüsse in Richtung des Flüchtenden. Dann überwindet auch er den Grenzbach und nimmt die Verfolgung auf. Es kommt zum Schusswechsel zwischen Smejkal und Čepek. Die beiden sind ungefähr 100 Meter voneinander entfernt, doch im dichten Nebel kann keiner den anderen genau erkennen. Smejkal schießt in die Richtung, in der er Čepek vermutet, Čepek feuert zurück. Das wiederholt sich einige Male. Schließlich gibt Smejkal auf, kehrt zum Postenstandort zurück und meldet die Flucht an den Kompanieaufseher Major Kotrba. Zu diesem Zeitpunkt weiß er noch nicht, dass er Čepek getroffen hat, dass dieser mit einem Durchschuss durch beide Oberschenkel im Wald liegt und verblutet.
Nach Auffinden der Leiche am späten Vormittag des 18. November 1968 auf BRD-Gebiet nicht ganz 300 Meter von der Staatsgrenze entfernt, war für die bayerischen Ermittler nicht wichtig, wer Milan Čepek erschossen hatte. Für sie stand die Frage im Mittelpunkt, ob eine Grenzverletzung vorlag, das heißt, ob tschechoslowakische Grenzbeamte bei der Verfolgung des Flüchtigen die Staatsgrenze übertreten oder überschossen hatten. Gemäß der Aussage von Unteroffizier Václav Smejkal lag diese Grenzverletzung eindeutig vor. Smejkals Verhörprotokoll stand den bayerischen Behörden jedoch nicht zur Verfügung. Auch sonst ist keine gezielte Zusammenarbeit zwischen tschechoslowakischer und bayerischer Seite zu erkennen. Der Abschlussbericht der Kriminalaußenstelle Passau vom 10. Januar 1969 stützt sich daher im Wesentlichen auf Entdeckungen, die am Fundort der Leiche gemacht wurden, sowie auf Aussagen und Rückschlüsse des Landesgerichtsarztes, der die Untersuchung und Obduktion der Leiche vornahm. Die Identität Milan Čepeks wurde an Hand der bei ihm gefundenen Dokumente vermutet und erst bei der Übergabe des Leichnams an die tschechoslowakischen Behörden am 21. November 1968 von diesen bestätigt.
Der Tathergang konnte jedoch rekonstruiert werden. Am 25. November 1968 trafen nämlich zufällig am vorübergehend geöffneten Grenzübergang Finsterau / Buchwald (Bučina) zwei Beamte der bayerischen Grenzpolizei mit zwei Beamten der tschechoslowakischen Grenzwache zusammen. Sie tauschten Zigaretten aus und unterhielten sich unter anderem auch über den bei Schnellenzipf gefundenen toten Soldaten. Laut der späteren Aussage der bayerischen Beamten schilderten die tschechoslowakischen Soldaten die Geschehnisse folgendermaßen:
Am 18. November 1968 gingen Milan Čepek und sein Vorgesetzter gemeinsam Streife. Plötzlich nahm Čepek seinem Streifenführer das Magazin aus der Waffe, warf es weg und flüchtete in Richtung der Grenze. Der Vorgesetzte legte daraufhin das Reservemagazin in seine Waffe ein und schoss dem Flüchtenden nach. Sogar den Namen des Schützen hatte man nun erfahren, denn die tschechoslowakischen Soldaten zeichneten "Smejkal" mit einem Stock in den Schnee ein.
Nach dieser wahrscheinlich offiziell verbreiteten Version des Tatablaufs war es offensichtlich nicht zur Grenzverletzung gekommen. Die bayerischen Ermittler fanden noch weitere Beweise, die diese Annahme stützten. So sagte der Landesgerichtsarzt aus, dass Milan Čepek nach seiner Verwundung noch eine Strecke von bis zu 350 Metern zurückgelegt haben könnte. Die blutgetränkten Hosenbeine des Toten sprachen ebenfalls dafür, dass Čepek nachdem er getroffen wurde, noch weiterlief. Zwar wurden in der Umgebung der Leiche Projektile und Einschusslöcher gefunden, die nicht aus Čepeks Waffe stammten, aber es konnte nicht festgestellt werden, ob diese Hülsen nicht schon von früheren Vorfällen stammten. Außerdem versicherte Oberst Malík von der tschechoslowakischen Grenzwache, der von einem bayerischen Polizeiamtmann als vertrauenswüdig charakterisiert wurde, den bayerischen Behörden am 21. 11. 1968, dass die deutsche Staatsgrenze bei den Geschehnissen am 18. November nicht verletzt wurde. So kam die Kriminalaußenstelle Passau in ihrem Abschlussbericht zu folgender Erkenntnis:
"Wie aus dem Ermittlungsergebnis zu ersehen ist, ereignete sich der Vorfall auf dem Gebiet der CSSR und Milan Cepek dürfte verletzt auf deutsches Hoheitsgebiet geflüchtet sein. Anhaltspunkte, die für eine Verletzung der deutschen Staatsgrenze sprechen würden, sind nicht vorhanden."
Dieses Ergebnis war natürlich für alle Beteiligten das unkomplizierteste, denn so kam es nicht zu einem internationalen Skandal und es mussten auch keine weiteren Maßnahmen von deutscher Seite ergriffen werden. Daher bleibt es fraglich, wie viel Energie die bayerischen Ermittler wirklich aufwandten, um eine Verletzung der Staatsgrenze nachzuweisen.
Die Folgen des Vorfalls für Václav Smejkal
Von bayerischer Seite aus hatte man keine Ambitionen den Schützen, Václav Smejkal strafrechtlich zu verfolgen. Anders sah dies von tschechoslowakischer Seite aus. Denn der Unteroffizier Smejkal hatte eindeutig gegen kommunistische Normen verstoßen, als er den Flüchtenden auf fremdem Staatsgebiet erschoss. Andererseits hatte er seinen Befehl, eine Flucht über die Staatsgrenze mit allen Mitteln zu verhindern, erfüllt. Die tschechoslowakischen Behörden befürchteten, dass weitere Grenzsoldaten Čepeks Vorbild folgen könnten. Daher gingen sie nicht strafrechtlich gegen Smejkal vor. Ganz im Gegenteil ehrten sie ihn sogar mit einer Beförderung, einer Woche Sonderurlaub und einer russischen Uhr mit Widmung vom obersten Befehlshaber der Grenzwache. Václav Smejkal konnte sich also als Held fühlen.
30 Jahre nach der Tat wurde er jedoch von seiner Vergangenheit eingeholt. Im Rahmen der Ermittlungen des Amtes zur Dokumentation und Untersuchung der Verbrechen des Kommunismus wurde Václav Smejkal im April 1998 wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu 18 Monaten Haft verurteilt. Freispruch oder Amnestie waren in seinem Fall ausgeschlossen.
Verfasst von: Tanja Amtmann
Verwendete Quellen:
Ermittlungsunterlagen der bayerischen Grenzpolizei vom 27. 11. 1968 bis 15. 01. 1969. Aus: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München. Präsidium der Bayer. Grenzpolizei 427.
Aussageprotokolle und Berichte der tschechoslowakischen Grenzpolizei vom 19. / 29. 11. 1968, Archiv des Innenministeriums CR, Abteilung Kanice, fond VPS, karton 361.
Literaturhinweise:
Jílkovi, Alena a Tomáš: Železná opona. Československá státní hranice od Jáchymova po Bratislavu 1948 – 1989. Praha 2006.
Švehla, Marek: Boží bojovníci. In: Časopis Respekt 1998 / Heft 7.
Zídek, Petr: Nastal čas trhnout železnou oponou. In: CS-Magazin online.