Münchner Abkommen und Protektorat
Helmut Pechtl, Der Anfang vom Ende, In: Grenzstadt Prachatitz in Böhmerwald, Heimatkreis Prachatitz 1986, S. 93 – 97.
Am 10. Oktober 1938 erreichte die deutsche Wehrmacht gegen Mittag ohne den geringsten Widerstand seitens der Tschechen unsere Heimatstadt. Tschechische Beamte, die vom Landesinnern nach Prachatitz versetzt worden waren, waren noch dabei, ihre Habe zu verladen und konnten unbehindert über die Alt-Prachatitzer Straße nach Hussinetz ziehen. Die deutsche Bevölkerung, die trotz Beschimpfungen und Bedrohungen ausgeharrt hatte, konnte erst beim Anblick der deutschen Wehrmacht aufatmen. Die Freude über die Befreiung unserer Heimat vom tschechischen Joch war übergroß. Die deutsche Wehrmacht übernahm die Kasernen, die Ortskommandantur und bezog im Rathaus ihre Dienststelle.
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Im Übereifer wurden einige Tschechen verhaftet, besonders solche, die sich 1918 bei Verhaftungen von deutschen Bürgern hervorgetan hatten. Aber schon nach 12 Stunden wurden sie entlassen. In Prachatitz wurde nicht ein politischer Gegner verhaftet. Der kommunistische Stadtrat J. F. konnte sich frei bewegen, ja er wurde sogar später bei der NSV (Volkswohlfahrt) als Lagerist eingesetzt. Wir waren alle so froh über die Befreiung, dass keine Rachegefühle aufkamen. Viele der ortsansässigen Tschechen blieben in der Stadt und versuchten, mit den neuen Verhältnissen fertig zu werden.
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Die politische Eingliederung wurde im November 1938 großartig gefeiert. Der Ringplatz wurde mit Fahnen und Transparenten geschmückt. Der SA-Musikzug brachte über den Sender München das Morgenkonzert, die Formationen des ganzen Kreises marschierten zum Appell auf, Gauleiter Wächtler hielt eine Ansprache und anschließend nahm er den Vorbeimarsch ab.
Die Bevölkerung musste verschiedene Umstellungen hinnehmen. Über Nacht wurde von Links- auf Rechtsverkehr umgestellt. Hart getroffen hat die Bevölkerung der Umtausch der bisherigen Währung in Reichsmark. Für eine Reichsmark wurden 10 Tschechenkronen berechnet. Dies entsprach nicht dem Kaufwert der Krone. Mit diesem Umrechnungskurs brachten die Sudetendeutschen ein großes finanzielles Opfer für das Reich.
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Mitte 1939 war unsere Heimatstadt politisch und verwaltungsmäßig voll eingegliedert. Es wurden Wehrdienst geleistet und Steuern an das Reich entrichtet. Die Steuers ätze waren höher als bisher.
Dazu gibt es eine nette Geschichte: Ein Arzt, der sehr beliebt und durch seinen Humor bekannt war, auch wegen seiner bedächtigen Sprache, die er führte, bekam seinen ersten Steuerbescheid, der natürlich höher ausfiel als bisher. Daraufhin ging er zum Finanzamt und erklärte den Beamten: "Wissen Sie denn nicht, dass wir 1938/39 immer am so genannten Adolf-Hitler-Platz standen und 'Siegheil' rufen mussten. Wenn ich gewusst hätte, dass das 'Siegheil' so teuer ist, hätte ich nicht gerufen". Ja, so warns', die alten Prachatitzer, humorvoll und oft mit beißender Ironie.
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Eine bittere Enttäuschung war für uns der Einmarsch der Wehrmacht in die Rest-Tschechoslowakei. Karl Spinka schreibt zu diesem Ereignis die treffenden Sätze: "Die freudvolle Erwartung, nunmehr sei für unsere Stadt endlich die ersehnte Friedenszeit angebrochen, erwies sich leider als trügerisch. Die Mehrheit der Prachatitzer war über die Errichtung des 'Protektorat Böhmen und Mähren' keineswegs begeistert, das ungute Gefühl, dieser Gewaltakt könnte eine unheilvolle Entwicklung auslösen, war in der Grenzstadt der bitteren Erfahrung mit erlittenen Rechtsbrüchen, vorhanden".
Rosa Tahedl: Der Weg zum Protektorat Böhmen und Mähren
Quelle: Rosa Tahedl: Der Weg zum Protektorat Böhmen und Mähren, In: Die Schneedörfer und Orte der Umgebung in Böhmerwald, Augsburg 1988, S. 286 – 287.
Wieder zogen feldgraue Kolonnen vom Altreich her durch den Böhmerwald; diesmal aber weiter bis in die Prager Stadt, um dort ein Protektorat zu errichten. Die Böhmerwäldler berührte das freilich nicht mehr so unmittelbar wie im Jahr vorher. Aber dieser Überraschungseinmarsch löste ein tiefes Unbehagen aus. Man hatte mit den Tschechen seinen Frieden gemacht. Eine frisch gezogene Grenze trennte die beiden 'Völker.
"Mir han af unsern Grund und sej am örern!" Das war gerecht und richtig in den Augen der Wäldler. Ein Unrecht als Rest des Weltkrieges schien begradigt. Freilich war es beschwerlich zu den Verwandten und Freunden nach Nordböhmen zu kommen; man musste das ganze Böhmerland umrunden. Aber Grenze ist Grenze! Diesmal war es keine Paschergrenze, die man geschickt umgehen wollte. Längst hatten die tschechischen Beamten ihren Hausrat, soweit sie ihn im Oktober 38 nicht mitgenommen hatten, ins Innere des Landes nachgeholt. Man war quitt mit ihnen. - Und jetzt greift der Hitler zum ersten Mal nach fremden Land? Das war ein Unrecht. Dafür hatten die Leute ein feines Gespür. Das wusste man aus eigener bitterer Erfahrung: Ein Recht auf Land erwirbt nur der, welcher es im Schweiße seines Antlitzes gerodet hat.
"Werds segn, dos tuat koa guat; wounn er si am fremdn Bou(d)n vergreift!" sagte ahnungsvoll die Mali Wawi.
Wie recht sollte sie in ihrer Ahnung behalten! Das Rechtsempfinden, durch Generationen als Volkesstimme gewachsen, stellte sich - wenn auch ohnmächtig - gegen die militärische Überlegung, dass der Reststaat der Tschechen wie eine geballte Faust in den Leib des Großdeutschen Reiches stieß, und dass dieses Hindernis für weitere militärische Pläne beseitigt wurde. Auch wenn diese zaghafte Kritik nicht gegen den Siegestaumel im Radio ankam ein Unbehagen blieb zurück.
Es kursierte der Vergleich mit dem heimischen Gebäck, den Golatschen, die in der Wallerer Gegend so schmackhaft gebacken wurden: "S'Besser von Gulatschn is der Toag und d'Ram (Kruste). Dos war eahm (dem Hitler) zuag'stoundn. Ober den Gatsch i der Mitt, der wird eahm i d'Zähnt ou-picka." - Auch ein Vergleich: Das Viereck des Böhmerlandes mit den viereckig gefalteten Kuchenstücken! Man hielt sich eben daheim an Solides und Handgreifliches.
Tagebuch der vierzehnjährigen Tschechin Jarmila Lukešová aus Budweis
Quelle: Jihočeské muzeum České Budejovice.
Dienstag 8.5.1945: wir standen am Radio, am Fenster, wo der wenig rumreiche Abzug der motorisierten Einheit der Deutschen Armee begann. Am Nachmittag sind da Panzerwagen und kleine Panzer. Die heutigen Deutschen stehen an der Straße und schauen auf die erschöpften deutschen Soldaten. Diese Deutschen sind nicht die Deutschen, die am 15. März 1939 an der Straße standen und „Sieg heil“ und ähnliches riefen. Damals kannten sie kein Wort Tschechisch und jetzt ist ihnen ihre tschechische Sprache bemerkenswerterweise zurückgekehrt.
Hans Harwalik – Fritz Pimmer (Hrsg.), Winterberg in Böhmerwald, Freyung 1995, S. 538 – 550.
Seit dem 8. Oktober 1938 waren wir also »beim Reich«. Es dürften nur wenige gewesen sein, die darüber nicht glücklich waren.
Nach den Tagen des Aufbruchs und der freudigen Unruhe normalisierte sich langsam das Leben in der Stadt. Manches war anders geworden. Da war das Gefühl, nun Herr im eigenen Hause zu sein. Man hörte keine fremdsprachigen Laute in den Gassen, und niemand vermisste das Grün der ungeliebten tschechischen Uniformen. An seine Stelle war das Feldgrau »unserer« Wehrmacht getreten, die den Winterbergern nicht nur als willkommene Befreier sympathisch war, sondern ihnen auch durch die betont soldatische Disziplin ihrer Männer imponierte.
So sah man zuerst nur belustigt zu, wie die Soldaten die Winterberger Geschäfte leer kauften und wie die Vorräte an guten Waren, sehr zum Vergnügen der Geschäftsleute, rasch dahinschwanden. Im Sudetenland gab es zum Beispiel Textilien von guter Qualität zu günstigen Preisen. Es fehlte der Bevölkerung nur an Geld, diese Waren auch kaufen zu können. Im Altreich dagegen waren schon so manche Waren aus Ersatzstoffen hergestellt. Der günstige Umrechnungskurs der Reichsmark zur Tschechenkrone von 1 : 12 war ein weiterer Anreiz, sich im Sudetenland mit Waren einzudecken. Weil aber die Geschäftsbeziehungen zu den Herstellern in der Rest-Tschechoslowakei vorerst ruhten und die Transportwege zu den sudetendeutschen Industriezentren sehr umständlich waren, mangelte es bald an verschiedenen Erzeugnissen, so dass sich die Wehrmacht veranlasst sah, eine Paketsperre für das Militär anzuordnen, damit die Versorgung der Zivilbevölkerung gewährleistet blieb.
Auch die nicht gerade geringen Biervorräte der beiden Winterberger Brauereien waren bald aufgebraucht. Ersatz kam durch Bier aus Bayern, das allerdings doppelt soviel kostete wie unser Winterberger Gebräu. Der Preis für den halben Liter stieg von 1. 50 Kronen auf 3 Kronen. Da sich vorerst Löhne und Gehälter nicht änderten und auch die Preise anderer Waren stiegen, war das ein Wermutstropfen in der allgemeinen Freude.
Andererseits wurde gleich nach dem Einmarsch die NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) tätig. Es wurden an die ärmere Bevölkerung Kleidung, Lebensmittel und Kohlegutscheine verteilt. Von dieser dringend nötigen Aktion zur Linderung der Not besonders in den Familien, deren Ernährer schon jahrelang arbeitslos war, wurde kein Bedürftiger ausgeschlossen.
Mit den Truppen kamen auch Führungskräfte der Partei und ihrer Gliederungen, die sofort für
ihre Formation (SS, SA, NSKK u.a.) zu werben begannen. So mancher wurde damals Mitglied, weil er glaubte, dazu als Dank für die Befreiung verpflichtet zu sein. Die allerwenigsten hatten eine Ahnung vom Wesen des Nationalsozialismus und erst recht konnte keiner wissen, dass er einer Organisation beigetreten war, die wenige Jahre später als verbrecherisch eingestuft werden wird.
Die Gestapo (Geheime Staatspolizei) etablierte sich im Hotel Zentral, in dem bisher die tschechische Staatspolizei residiert hatte. Von hier aus entfaltete sie ihre unheilvolle Tätigkeit. So wurden die verbliebenen deutschen Juden deportiert. Führende Sozialdemokraten und Kommunisten kamen für einige Monate zur »Umerziehung« in das Konzentrationslager Dachau. Bei den Festnahmen und Verhören kam es wiederholt zu Gewalttätigkeiten, von denen die Bevölkerung nur gelegentlich durch Zufall erfuhr.
Schon am 20. Oktober war die vorübergehende Militärverwaltung aufgehoben worden und die Geschäfte gingen auf die staatlichen Verwaltungen über. Der größte Teil des Böhmerwaldes wurde dem Reichsgau »Bayerische Ostmark« mit dem Sitz in Bayreuth zugeteilt und nicht - wie es der Wunsch der Bevölkerung gewesen wäre, der aus verkehrstechnischen Gründen nicht erfüllt werden konnte - dem Sudetenland, das einen eigenen Reichsgau bildete. Damit waren die Winterberger zu Bayern gekommen, dem Land aus dem die meisten ihrer Vorfahren stammten. Ähnlich erging es dem südlichen Zipfel des Böhmerwaldes, der zu Oberösterreich kam.
Die zuerst nur provisorisch untergebrachten Soldaten wurden in die Kaserne hinter dem Bahnhof, von der Bevölkerung »die Baracken« genannt, verlegt. Dort war bis zum 7. Oktober 1938 ein Bataillon „Hraničáři“ (Grenzwächter) stationiert, das von Oberstleutnant Sucharda befehligt wurde, der dann 1945 nach Kriegsende als »Partisanen-General« wieder im Böhmerwald auftauchte. Die deutsche Garnison trug nicht wenig zur wirtschaftlichen Belebung in der Stadt bei. Die Soldaten waren in den Gaststätten gern gesehen, und auch die Geschäftswelt schätzte sie als Kunden. So wie die tschechische Garnison das gesellschaftliche und kulturelle Leben der tschechischen Minderheit vor 1938 befruchtet und positiv beeinflusst hatte, so waren jetzt die deutschen Soldaten eine willkommene Stärkung und Blutauffrischung für die Vereine. Und manche junge Winterbergerin fand an der Seite eines dieser Soldaten der Garnison ihr »Glück fürs Leben«.
Wenig Verständnis hatte man in Winterberg für die Maßnahmen des »Stillhaltekommissars«. Mehrere traditionsreiche Vereine und Genossenschaften wurden aufgelöst oder in reichsdeutsche Verbände mit ähnlicher Zielrichtung übergeführt. So wurde zum Beispiel die Konsumgenossenschaft »Konsumverein« aufgelöst und die wertvollen Bestände der Bibliotheken der Deutschen Jungmannschaft und des Bundes der Deutschen u. a. in die Stadtbücherei eingegliedert. In manchen Fällen ging die Leitung auf Reichsdeutsche über, obwohl verdiente und fähige einheimische Führungskräfte vorhanden waren. Was früher freiwilliges Engagement war, wurde nunmehr zum Zwang: Versammlungen, Appelle, Schulungen hielten die Bevölkerung in Atem. Man konnte sich des Eindrucks nicht ganz verschließen, dass die »müden Neudeutschen «, wie schon vorher die Österreicher, in möglichst kurzer Zeit umerzogen und auf Vordermann gebracht werden sollten. Der Unmut über manchen Missstand hielt sich aber in Grenzen; man entschuldigte ihn mit Obergangsschwierigkeiten und war nach wie vor froh, Deutscher, Reichsdeutscher, zu sein.
Zur Zufriedenheit der Bevölkerung trug viel bei, dass die Arbeitslosen Arbeit bekamen. So mancher, der im Tschechenstaat nie hätte damit rechnen können, wurde nun bei Bahn, Post, Forst und anderswo im öffentlichen Dienst beschäftigt. Mit der Errichtung des Arbeitsamtes im Jahre 1939 konnten alle noch nicht Beschäftigten in ein Arbeitsverhältnis vermittelt werden; sie mussten allerdings Arbeitsplätze da
annehmen, wo sie gebraucht wurden, also besonders in den Industriezentren des Altreiches. Aus dem Recht auf Arbeit wurde mit zunehmendem Bedarf von Arbeitskräften für die Rüstungsindustrie die Pflicht zur Arbeit. So manche kinderlose Dame wurde sehr gegen ihren Willen dienstverpflichtet.
Nicht alle Tschechen hatten in den ersten Oktobertagen des Jahres 1938 die Stadt verlassen. Einige der alteingesessenen tschechischen Familien blieben und führten ihre Geschäfte weiter. Erst gegen Kriegsende wurden deren Geschäfte geschlossen und die Inhaber, soweit es vom Alter her zumutbar war, zu berufsfremder Arbeit verpflichtet.
Auch nach dem Anschluss an das Deutsche Reich suchten viele Bewohner der tschechischen Dörfer jenseits der Sprach- und Protektoratsgrenze in Winterberg Arbeit. In deutschen Geschäften und Unternehmen fanden sie ihren Lebensunterhalt, zum Beispiel als Arbeiter und Angestellte der Wäschefabrik Seidensticker, in der Möbelfabrik Kotschwara, in der Verlagsanstalt und Druckerei J. Steinbrener; sie arbeiteten aber auch als Verkäufer in Einzelhandelsgeschäften. Als immer mehr Winterberger zum Kriegsdienst einberufen wurden, nahmen Tschechen aus den Nachbargemeinden Busk, St. Mářa, Trhonin, Zdikau und aus anderen Orten deren Arbeitsplätze ein.
Die Kinder der in Winterberg verbliebenen Tschechen besuchten zum größten Teil die deutschen Schulen, auch die neu gegründete Handelsschule; sie wurden wegen ihrer Nationalität nicht benachteiligt.
Ende 1938 hatte Winterberg trotz des Abzugs des größten Teiles der tschechischen Bevölkerung wieder 4950 Einwohner, von denen 270 sich als Tschechen bekannten. Deren Zahl dürfte in Wirklichkeit größer gewesen sein, da mancher Opportunist sich Vorteile erhoffte, wenn er sich als Deutscher bezeichnete.
Dass das Ns-Regime nicht kirchenfreundlich war, erkannte man bald auch in Winterberg, wo die Bevölkerung besonders starke Bindungen an die katholische Kirche hatte. Von den Gliederungen der Partei, später auch von der HJ (Hitler-Jugend), wurde »Dienst«, der Pflicht war, öfter absichtlich dann angesetzt, wenn Gottesdienste oder Andachten stattfanden. Das von der Firma Steinbrener errichtete Exerzitien- und Erholungsheim »St. Rafael« wurde in einer Nacht- und Nebelaktion entschädigungslos enteignet. Das Haus, das von Ordensschwestern vorbildlich geführt wurde, diente der Erholung kranker Arbeiter dieses Unternehmens und deren Familienangehörigen und war auch eine Stätte geistlicher Einkehr. Die Schwestern mussten unverzüglich ihre Wirkungsstätte verlassen und durften nur das Inventar der Hauskapelle und ihre persönliche Habe mitnehmen. Das Exerzitienhaus erhielt einen Anbau und wurde Kreisschule der NSDAP.
In Winterberg waren mehrere geistig Beschränkte, arme bemitleidenswerte Wesen, die sich auf ihre Art ihres bescheidenen Lebens freuten. Damals, wo man noch nicht so empfindsam war wie heute, nannte man sie Deppen, Dorfdeppen. Sie gehörten zum Straßenbild, wurden von jung und alt auf gutmütige Weise gehänselt, aber auch mit kleinen Gaben bedacht, wenn sie um solche baten. Wer erinnerte sich nicht des »Hülzernen Prinz« oder des »Dinei« und all der anderen? Mit der Einführung der neuen Ordnung wurde das Betteln verboten. Diese armen, harmlosen Wesen mussten ihre gewohnte Umgebung, ihre armselige Unterkunft im Armenhaus verlassen und wurden in ein Sammelasyl nach Prachatitz abgeschoben. Nur wenige sollen das Kriegsende überlebt haben.
Während solche Aktionen ohne großes Aufsehen durchgeführt wurden, sind andere unter der Regie der Parteipropaganda groß herausgestellt worden. Viele Kinder, von denen nicht wenige als Folge der Notjahre unterernährt und kränklich waren, wurden zur Erholung ins Altreich geschickt. Desgleichen kamen kinderreiche Mütter in Müttererholungsheime. Manchem Arbeiter wurde durch KdF (Kraft durch Freude) der erste Urlaub seines Lebens ermöglicht.
Bis zur Mitte des Jahres 1939 hatte sich die materielle Lage der Winterberger erheblich gebessert. So war es auch kein Wunder, dass viele Interessenten für die Idee des Volkswagensparens gewonnen werden konnten. Am Ringplatz wurde der VW gezeigt. Die Vorführwagen, von Menschentrauben umlagert, waren eine gute Werbung, und so mancher sah sich schon als stolzer Autobesitzer. Dieser Ur-Volkswagen sollte 990 Reichsmark kosten, das war ein Preis, der durchaus erschwinglich schien. Noch ahnte niemand, dass mit den Raten der Volkswagensparer VW-Kübelwagen für den Kriegseinsatz gebaut werden würden. Viele Familien hatten nun die Möglichkeit, ein billiges Rundfunkgerät zu erwerben. Den »Volksempfänger«gab es für nur 35 Reichsmark. Arme kinderreiche Familien erhielten ihn leihweise kostenfrei von der NSDAP.
Die wenigen Monate in Frieden bis zum 1. September 1939 waren zweifellos die glücklichsten im Dasein der Winterberger als Staatsbürger des Großdeutschen Reiches. Zwar hatte die Besetzung der Rest-Tschechei und die Ausrufung des »Protektorates Böhmen und Mähren« bei vielen einen Schock ausgelöst. Niemand billigte diesen, von den arglosen Sudetendeutschen nicht erwarteten Schritt, und viele begannen an der Zuverlässigkeit von Führerworten zu zweifeln. Zu wach war noch die Erinnerung an Hitlers Ausspruch »Wir wollen gar keine Tschechen!«. Besonders den Sudetendeutschen war das aus der Seele gesprochen, waren sie doch nach ihren Erfahrungen froh, der Tschechen ledig zu sein. Und jetzt? Doch man tröstete sich mit der Hoffnung, dass nun das Großdeutsche Reich abgerundet und saturiert sei und man träumte von einem Leben in Frieden und Zufriedenheit.
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Einige Tage nach der Besetzung Winterbergs durch Angehörige der 252. amerikanischen motorisierten Division konstituierte sich der örtliche narodní výbor (Nationalausschuss). Er bestand vorwiegend aus jenen Tschechen, die in Winterberg verblieben waren. Zum Vorsitzenden wurde der Bäckermeister Franz Černík gewählt, der damit an die Stelle des letzten deutschen Bürgermeisters Franz Thema trat, der ihm die Amtsgeschäfte übergeben musste. Thema wurde verhaftet und vorübergehend in Prachatitz inhaftiert. Černík konnte sein Amt aber erst ausüben, als er vom amerikanischen Militärkommandanten bestätigt war.
Die Winterberger hatten sich daran gewöhnt, dass von ihrem Rathaus nunmehr drei fremde Fahnen wehten: eine tschechische, eine amerikanische und eine sowjetische. Auch an das Auftreten tschechischer» Partisanen« gewöhnten sie sich. Diese liefen in Fantasie-Uniformen oder in deutschen Fliegeruniformen herum, trugen eine Armbinde mit der Aufschrift »český partizán« und gebärdeten sich als Sieger, obwohl sicher kaum einer der jungen Leute je eine Feindeskugel pfeifen gehört hatte. Auch Oberstleutnant Sucharda, der bis 1938 die Winterberger Garnison befehligte und dessen Gattin als Klavierlehrerin und stellvertretende Leiterin an der städtischen Musikschule tätig gewesen war, erschien in Winter berg mit einer Armbinde, die ihn als »Partisanen-General« auswies. Er hatte es in Prachatitz zum Vorsitzenden des okresní národní výbor, des Nationalen Kreisausschusses, gebracht.
Die tschechische Polizei hatte sich im Gasthaus »Stadt Wien« eingerichtet. Ihr Chef war der Fleischer Bursa. Von hier aus schwärmten Gendarmen, Hilfspolizisten und Partisanen aus, um systematisch die Wohnungen der Deutschen zu durchsuchen. Es kam zu vielen Verhaftungen von Winterberger Männern und Frauen. Das Gefängnis war stets Überfüllt.
Alle Rundfunkempfänger waren konfisziert worden. Die deutschen Straßenschilder wurden durch tschechische ersetzt. Und so mancher amüsierte sich im Stillen, wenn ihm bewusst wurde, dass anstelle der braunen Diktatoren nun die roten hoch im Kurs standen, wie die neue "Stalinova třída« bewies.
Während die Versorgung der tschechischen Bevölkerung in den Kriegsjahren im Protektorat besser war als sonst irgend wo im Herrschaftsbereich des NS-Staates, dankten das die hasserfüllten tschechischen Machthaber damit, dass sie der deutschen Bevölkerung nunmehr Lebensmittelkarten zuteilten, die in keiner Weise den allernötigsten Bedarf für das lebensnotwendige Minimum deckten. Dies bezog sich sowohl auf die Menge als auch auf die Art der genehmigten Lebensmittel, von denen die wichtigsten ausgeschlossen waren. Da längst alle Vorräte aufgebraucht waren und niemand auch nur die geringste Möglichkeit hatte, sich zusätzlich für Kinder oder Kranke etwas zu besorgen, versammelten sich die verzweifelten Frauen, an ihren gelben Armbinden mit dem großen „N“ als Deutsche gekennzeichnet, vor dem Rathaus, um für eine Aufbesserung der Rationen zu demonstrieren. Einige mutige Frauen trugen dem Vertreter der amerikanischen Stadtkommandantur und dem des narodní výbor ihr Anliegen vor. Sie wurden dabei durch lautstarke Proteste aus der Menge unterstützt, die den halben Kirchplatz füllte. Nach einiger Zeit riegelten "Partisanen« die Zugänge zum Ringplatz ab. Andere trieben mit gezogener Waffe die Frauen auseinander und drängten sie vom Platz in die Kirchengasse und die Steinbrenergasse ab. Es
ist nicht bekannt, ob die Aktion der tapferen Winterbergerinnen einen Erfolg gezeitigt hat; es dürfte aber einer der wenigen, wenn nicht der einzige Fall gewesen sein, wo es damals Deutsche gewagt haben, gegen Maßnahmen der „Sieger“ in der Öffentlichkeit zu protestieren.