Sammellager Prachatitz
Gretl Wimbersky, Die Vertreibung, In: Grenzstadt Prachatitz in Böhmerwald, Heimatkreis Prachatitz 1986, S. 99 – 104.
Ein Aufforderungsschein kam ins Haus, er besagte, dass wir uns (oft binnen zwei Stunden und auch, wenn die Leute gerade in der Kirche oder sonst wo waren) fertig machen mussten für den Abtransport. Von zwei, mit aufgepflanztem Bajonett bewaffneten Polizisten beobachtet, sollten wir einpacken, etwa 50 kg und nichts Wertvolles, Gutes. Was das war, bestimmten diese Aufpasser. In der Wohnung wurde mir da schon manches genommen, aus dem Koffer geschmissen. Hinter uns wurde die Türe versiegelt. Der Vater meiner Schwägerin ließ symbolisch für uns alle Gezeichnete als letzte Tat in seinem Heim den Perpendikel der Wanduhr stillstehen … Meine Mutter wollte noch mal an den Weihwasserkessel, um mir zum Ausgang die Stirn zu besprengen, man schob sie höhnisch weg - sie wollte noch mal Abschied nehmen vom Geschäft, durch Laden und Werkstatt gehen, man stieß die weinende Frau zum Tor hinaus. - Hinter dem Leiterwagen gingen wir schluchzend durchs geliebte Heimatstädtchen, hinauf zur Kaserne, dem Lager der Deutschen.
Dort wurde noch mal kontrolliert, gefilzt. Erschütternde Szenen spielten sich (besonders bei der Leibesvisitation) ab; auf Fotos, Geld, Sparbücher, Dokumente, auf alles, was deutsch geschrieben war oder etwas Wert hatte und was mancher doch noch retten wollte, waren sie besonders scharf. Mit der zerwühlten Habe mussten wir uns dann aufs dürftige Strohlager begeben. Wir Jüngeren wurden aufgefordert, noch mal die gelbe Armbinde umzutun und mussten dann beim Kasernentor die neu Ankommenden erwarten, ihr Gepäck abladen, in den Kontrollraum und zum Asyl schleppen. Koffer, Kisten, Säcke, Taschen, Binkel, die letzte Habe der Armen, wurden oft brutal auseinander gerissen. Ich versuchte mutig so manchem Landsmann zu helfen, habe heimlich gefragt: "Hobns wos zan verstecka?" Man händigte mir ängstlich Dinge aus, die dem einen oder anderen eben am Herz lagen, an denen mancher besonders hing, und ich lief mit Herzklopfen hoch zu unserem Notlager und verbuddelte die Sachen dort, und wenn es dunkel und ruhig war, gab ich sie vertraulich den dankbaren Menschen wieder. Irgendwie hatte mancher doch noch etwas, das ihm lieb war, vor den Kontrollen vorher gerettet - Urkunden, Aufzeichnungen, ein Sparbuch, ein Hochzeitsbild oder das vom gefallenen Sohn. . . Ein alter Herr kramte zitternd im "Schößlfrack" und holte drei Goldstücke heraus, ein anderer eine kostbare Taschenuhr, eine prächtige Pfeife ... ein Mütterlein vertraute mir einen teuren Rosenkranz an, eine Nachbarin eine Reliquie und ein Amulett. Aber die kleine Hilfe war nur ein Tropfen auf den heißen Stein, das Beste wurde konfisziert, blieb daheim oder wurde uns entrissen.
Mathilde Kreitmaier geb. Thuma: Kindheit und Vertreibung
Im Frühjahr 1946 mussten wir unsere geliebte Heimat verlassen, die unsere Ahnen unter großen Mühen und Entbehrungen der Wildnis einst abgerungen hatten. Innerhalbweniger Stunden mussten wir unser Haus- und unser Hab und Gut zurücklassen. Nur das Notwendigste durften wir in das Sammellager nach Prachtitz mitnehmen. Jeder Person war es lediglich gestattet, Gepäck bis zu einem Gesamtgewicht von 50 kg mitzunehmen, so insbesondere ein Federbett, warme Kleidung, Schuhe, Blechgeschirr und einige Nahrungsmittel. Schmuck und wertvolle Gegenstände wurden - soweit sie uns nicht schon bei den Plünderungen unmittelbar nach Kriegsende abgenommen worden waren - von den Tschechen im Lager in Prachatitz beschlagnahmt. Zwischen dem 7. und 13.6. 1946 wurden fast alle Deutschen der Gemeinde Wolletschlag in dieses Lager gebracht. Die arbeitsfähigen Jugendlichen und Erwachsenen wurden tagsüber in Prachatitz zu Reinigungsarbeiten herangezogen. Am 17.6. 1946 schlug dann endgültig die Stunde des Abschiedes. In etwa 40 Viehwaggons wurden die im Lager zusammengepferchten Deutschen in einem Sammeltransport mit der Eisenbahn aus ihrer Heimat abtransportiert. In jedem Waggon wurden 30 Personen, Erwachsene und Kinder, Gesunde wie auch Hochbetagte und Kranke mit ihrem Gepäck eingesperrt. Nur durch ein kleines vergittertes Fenster und die spaltbreit geöffnete Tür fiel etwas Licht in diesen dunklen Käfig. Besonders für Familien mit kleinen Kindern und alten Leuten war diese Fahrt eine Tortur. Unsere damals 80 Jahre alte Großmutter wurde unterwegs krank, doch sie ertrug auch diesen Abschnitt der Vertreibung ohne Klagen.
In Furth im Wald wurden wir von den Amerikanern und deutschen Behörden übernommen. Hier bekamen wir erstmals frische Verpflegung. Im zerbombten Schwandorf war der nächste etwas längere Halt. Unterwegs hielten wir auch kurzfristig schon an kleineren Bahnhöfen an. Über Nürnberg kamen wir schließlich in Augsburg an. Dort verließen wir den Zug. Die Behörden waren mit der Aufnahme der etwa 1200 Vertriebenen, die mit diesem Transport aus Prachatitz in den Westen gekommen waren, überfordert. Nach dem dreitägigen Transport fanden wir schließlich in einer bombardierten Strickerei eine mehr als notdürftige Unterkunft. Da gerade Fronleichnamsfest war, wurde im Lager auch eine Messe gelesen. Am folgenden Tag wurde der Transport aufgeteilt. Die Handwerkerfamilien brachte man nach Füssen im Allgäu; die Bauern und Häusler mit ihren Familien kamen in ein Lager nach Neuburg an der Donau. Das Lager war im Studienseminar eingerichtet. Hier waren wir während der nächsten acht Tage untergebracht. Durch die Strapazen des Transportes und die mangelnde Ernährung waren wir alle schon recht kraftlos.
Wiederum eine Woche später wurden wir zusammen mit etwa 30 anderen Leidensgenossen auf einem offenen Lastwagen verfrachtet und nach Untermaxfeld im Donaumoos gebracht. Mittlerweile schrieb man den 1. Juli. In dieser flachen und für uns daher ungewohnten Gegend mit schwarzer Moorerde war uns recht bange nach den vertrauten Böhmerwaldbergen. Wir ahnten nicht, dass Untermaxfeld auf einige Jahre unsere neue Heimat werden sollte, denn wir klammerten uns an die Hoffnung, bald wieder in unsere Heimat zurück zu dürfen. Im Saal des Dorfwirtshauses wurden wir einquartiert. Auf dem Fußboden war reichlich Stroh aufgeschüttet, auf welchem wir erstmals nach vielen Tagen tiefen und erholsamen Schlaf fanden. Die Wirtin war - was damals keine Selbstverständlichkeit war - eine gutherzige und freundliche Frau.
Sie stellte uns ihren großen Waschkessel zur Verfügung, in welchem wir uns eine Kartoffelsuppe kochen konnten. Die Kartoffeln hatten einige von uns von Bauern bekommen. Auch einige Liter Milch kamen für die Kinder zusammen. Da gerade die Zeit der Heuernte war, halfen wir den Wirtsleuten beim Heuwenden mit recht unhandlichen, schweren Rechen, die wir von unserer Heimat her nicht gewohnt waren. So verdienten wir uns in Bayern unsere erste "Brotzeit". Mehr erwarteten wir an Lohn nicht und bekamen wir auch nicht, denn damals war die Arbeitskraft in der Landwirtschaft nichts wert.
Wieder einige Tage später wurden wir Vertriebenen an die Bauern in Untermaxfeld und in der näheren Umgebung aufgeteilt. Mutter, Großmutter und Bruder bekamen in Untermaxfeld eine kleine Dachwohnung, wo fortan meine Mutter für die Bauern Wolle spinnen mussten. Als Lohn erhielt sie einige Lebensmittel. Ich selbst kam nach Stengelheim zu einem Bauern, wo ich mich einige Jahre später mit einem Landwirt verheiratet habe. Meine Schwester kam zu einer Bäuerin nach Obermaxfeld, deren Mann in Russland vermisst war. Mit ihren sieben kleinen Kindern hatte sie damals einen besonders schweren Stand. Meine Mutter, mein Bruder und meine Schwester fanden später in Schrobenhausen in der "Neuen Heimat" im Jahre 1959 letztendlich. tatsächlich eine neue Heimat. In jener Siedlung, in der heute zahlreiche Böhmerwäldler leben, errichteten sie sich ein schönes Eigenheim. Unsere früheren Nachbarn hat es in viele Gegenden Bayerns verschlagen. So kamen "s'Englbertn" nach Meitingen, wo sie auch heute noch leben. Andere sind im Allgäu ansässig geworden. Wieder andere, wie "s' Frounzn", gelangten in die Oberpfalz. Der Schmerz der ersten Jahre über den Verlust der Heimat ist gewichen; aber mit Wehmut denke ich immer wieder an meinen geliebten Böhmerwald zurück.
Quelle: Mathilde Kreitmaier geb. Thuma, Kindheit und Vertreibung, In: Kieweg, Herbert, Weasch’n, Wusch’n und Gulatsch’n. Die Pfarrei Sablat in Geschichte und Geschichten, 1994.
Ida Sitter: "Ausflug" aus dem Lager in Prachatitz. Die "Oltrichter Ida" - Oberschneedorf – berichtet, In: Die Schneedörfer und Orte der Umgebung in Böhmerwald, Augsburg 1988, S. 314.
Wir wurden am Pfingstdienstag 1946 ins Lager gebracht. Bei der Durchsuchung fanden sie bei meinem Vater selbst angebauten Tabak. Natürlich wurde ihm dieser weggenommen. Meinen Vater kränkte dies sehr. Als der Transport zusammengestellt war konnten wir nicht mitkommen, da von meiner Schwester Marie das Kind schwer erkrankt war. Ich musste im Lager in der Küche mithelfen. Ein Onkel aus Wossek brachte uns etwas Essbares ins Lager, musste es aber beim Tor abgeben. So waren wir eigentlich so halbwegs versorgt, nur Vater jammerte täglich um seinen geliebten Tabak. Weil ich ihn nicht mehr länger leiden sehen konnte, kam mir der Einfall, vielleicht kann ich noch mal nach Hause gehen. Zu den Soldaten, die den Eingang des Lagers bewachten sagte ich dann, ob ich nicht zu meinen Onkel nach Wossek gehen könnte, um ihm Heueinfahren zu helfen. Zur Antwort bekam ich dann nur, was ich ihnen für diesen Freigang mitbringen würde.
Da ich auf diese Frage nicht gefasst war, fiel mir in der Aufregung nur ein "Honig". Sie sagten mir zu, aber mit der Auflage: "Den anderen Tag um 7.00 Uhr kannst du gehen und um 17.30 hast du wieder hier zu sein, sonst kommst du nicht mehr herein". Pünktlich um 7.00 Uhr verließ ich dann am anderen Tag das Lager und ging zu Fuß von Prachatitz bis Oberschneedorf. Ich musste auf Feld- und Schleichwegen gehen, um nicht erwischt zu werden, um 10.00 Uhr kam ich bei "Eduardn Wenzl" an. Ich wusste, dass die noch daheim waren und mein einziger Gedanke auf den Weg dorthin war, hoffentlich haben die Honig. Gottseidank wurde ich nicht enttäuscht. Ich ging dann weiter zu meinem Elternhaus und suchte als erstes den Stoff, den wir noch vor dem Abtransport versteckt hatten. Nun wickelte ich mir den Stoff um meinen Körper und steckte immer die selbst angebauten Tabakblätter dazwischen. Zog meine Kleider wieder darüber und schon war der Tabak verstaut. Zum Glück hatte mich dabei niemand beobachtet. Ich nahm dann noch eine große Kanne mit und ging nach Schönau weiter. Dort war noch meine Schwester Lorie. Die war ganz schön erstaunt, als ich bei ihr ganz erschöpft ankam und packte mir schnell in einen Rucksack 2 Laib Brot ein und etliche Flaschen mit Milch für die kranke Nichte. Die Nachbarin gab mir auch noch einen Laib Brot und so eilte ich schwer aufgepackt wieder zu Eduard Wenzl zurück. Die hatten in der Zwischenzeit Butter gerührt. Die Butter gaben wir in die große Kanne und gossen Buttermilch darüber, damit die Butter niemand bemerkte. Nun hatte ich auch noch die Kanne zu schleppen. Nun stieg schon das Angstgefühl in mir hoch, nicht pünktlich das Lager zu erreichen. Man begleitete mich noch ein Stück und dann marschierte ich alleine weiter. Als ich in Schweinetschlag ankam, war ich schon dem Umfallen nahe. Doch die Angst, ich könnte mich verspäten, trieb mich immer weiter. Die Schuhe hatten meine Füße schon aufgewetzt, so ging ich das letzte Stück barfuss. Weinend quälte ich mich weiter, denn durch das Barfussgehen war bald die ganze Fußsohle aufgerissen. Pünktlich um 17.30 Uhr kam ich dann beim Lager an und die Soldaten zeigten lachend auf meine blutenden Beine. Das einzige nach was sie mich fragten war, ob ich auch den versprochenen Honig nicht vergessen hätte. Ohne lange zu warten, nahmen sie mir einfach meinen Rucksack ab, nahmen sich den Honig heraus und die anderen Sachen ließen sie mir freundlicherweise. Am anderen Tag konnte ich nicht einmal meinen Küchendienst im Lager versehen, da ich mich vor Schmerzen nicht bewegen konnte.
Justine Haselsteiner
Justine Haselsteiner, geb. 1879, gest.1971, schrieb 1946 ihre Erlebnisse während der Vertreibung aus Wallern/Volary nach Höchst bei Frankfurt/Main auf:
Zu zweit wurden wir – etwa 600 an der Zahl – aufgestellt und unter 10 Mann tschechischer Gendarmeriebewachung vorbei an vielen Wallerern zu den Wagons geführt. Da vermissten wir den Rucksack mit dem ersparten Zucker, Mehl, Haferflocken und 2 Broten. So liefen Tochter Poldi und Hilde zurück zum Auto, doch es war schon alles im Haus untergebracht und abgesperrt. Der Wächter sagte ihnen: „Bei meiner Tschechen-Ehre morgen kommt alles nach in´s Lager“.
Vom Prachatizter Bahnhof bis zur Unterkunft mussten wir 650 der Heimat beraubte Menschen, zu zweit in der Kolonne marschieren. An der Polizei vorbei und vielen Zuschauern längs der Straße. Es war der 08. März 1946.
Wir wurden von zwei Frauen nach Geld und Schmuck durchsucht. Auch die Männer wurden von den Tschechen durchsucht. Ein höherer Beamter nahm meinem Mann 600 Kronen. 700 Reichsmark und 5 Sparbücher aus der Manteltasche und legte alles auf den Tisch. So hatten wir keinen Pfennig Geld.
Sie beschreibt die Situation im Sammellager Prachatitzt:
Während der 11 Tage im Lager gab es früh und abends schwarzen Kaffee mit Brot. Mittags täglich Kartoffelsuppe mit Brot. Einige hatten das Glück, dass Verwandte Gebäck brachten und ihnen durch den Stacheldraht zusteckten. Dies war aber nur möglich, wenn sie der Wächter mit der Hundepeitsche nicht sah und verjagte.
Quelle: Sudetendeutsches Archiv München.
Helga Großmann-Smola: Fahrt ins Ungewisse
Helga Großmann-Smola schrieb diesen Bericht für den Vortragsabend des 10. Winterberger Heimattreffens 1986 in Freyung. Er wurde um einige Erlebnisse einer unbekannten Verfasserin erweitert, die ihre Erinnerungen an den ersten Vertreibungstransport aus Winterberg in Heft 5/1966 des »Böhmerwäldler Heimatbriefes« veröffentlicht hat.
Im Januar/Februar 1946 verdichteten sich in der Stadt die Gerüchte um die bevorstehende Vertreibung aus der Heimat. Noch wollten viele nicht glauben, dass so etwas möglich wäre, und andere konnten sich nicht vorstellen, wie eine solche Abschiebung praktisch durchgeführt werden sollte. Aber am 10. März war es dann soweit. Die Namenslisten für den ersten Transport waren zusammengestellt, und um sechs
Uhr früh - es war ein Sonntag - trommelten Angehörige der tschechischen Miliz an Tore und Türen und Briefträger übergaben den Erstbetroffenen die Ausweisungsbefehle. Um vierzehn Uhr sollten wir zur Aussiedlung bereitstehen. So waren uns nur acht Stunden gegönnt, um pro Person 50 Kilogramm Gepäck herzurichten, das Bettzeug mit eingerechnet, das schnell in Decken oder wertlose Teppiche eingenäht wurde. In den Häusern und Wohnungen ist es hektisch zugegangen. Jeder wollte zeitgerecht fertig sein, und die Wahl, was mitgenommen werden sollte und auch durfte, war schwer. Unter Tränen nahmen wir von den Zurückbleibenden Abschied; wann und wo würde man sich wiedersehen?
So gegen 15 Uhr holten Ochsengespanne und Lastwagen das Gepäck ab, und ein Elendszug wanderte zu dem ersten gemeinsamen Nachtlager in zwei Sälen. Die Nacht verbrachten wir auf Stroh, die meisten aber halbwach auf ihrem Gepäck sitzend. Wie viele frohe Stunden hatten wir Jugendliche, besonders aber unsere Eltern und Großeltern, hier im Wiesersaal einst erlebt, der jetzt zur letzten Herberge in der Heimatstadt ausersehen war! Am nächsten Vormittag bewegte sich diese untröstliche Menge, es waren über sechshundert Personen, unter Gendarmeriebegleitung zum Bahnhof. Dort verstaute man uns in Viehwaggons. Etwa vierzig Personen mit ihrem gesamten Gepäck mussten in einem Wagen Platz finden; in den meisten mussten noch dazu zwei oder drei Kinderwagen mit den Babys untergebracht werden. Um die Kälte etwas zu lindern, es war ja erst Anfang März, gab es ein kleines Kohleöfchen, auf dem man auch Milch oder Wasser wärmen konnte.
[…]
Spät am Abend fuhr dann der Zug in Prachatitz ein, wo wir zunächst für eine Nacht auf Strohlager in die Turnhalle verfrachtet wurden. Am nächsten Tag kamen wir dann in das Sammellager in die Kasernen. Am 12. März mussten wir zur Registrierung. Wie wurde da schon mit unsern Ausweisen umgegangen! Viele Bilder unserer lieben Verstorbenen und Gefallenen, die wir zwischen unsern Dokumenten verwahrt hatten, wurden von den Tschechen auf den Boden geworfen und zertreten; niemand getraute sich, etwas aufzuheben, da man uns von allen Seiten genau beobachtete. Bei der anschließenden Gepäckkontrolle ging es unbeschreiblich zu. Von dem wenigen, das wir mitnehmen durften, wurde uns noch viel abgenommen, von dem man sich nun schweren Herzens trennen musste. Die Tschechen rauften sich geradezu um so manches Stück Wäsche oder Kleidung. Hernach folgte das traurigste Kapitel, die Abgabe der Sparbücher. Wie viele alte Leute mussten mit tränenfeuchten Augen und zitternden Händen ihre so schwer ersparten Notgroschen auf diese Weise verlieren! Die Tschechen grinsten höhnisch zu diesen Heldentaten. Auch die Leibesvisitation nach etwa verstecktem Schmuck oder nach Bargeld wurde ganz genau und ohne Rücksicht auf die menschliche Würde vorgenommen. Der »böhmische Zirkel« ging um...
Manchen Lagerinsassen brachten Verwandte etwas Verpflegung an das große Gittertor. Wenn wir dann hinliefen, um etwas aus Winterberg zu erfahren, dann schrieen die Posten »Potvory, zpět, střelíme na vás!« (zurück, Gesindel, wir schießen auf euch) und bedrohten uns mit ihren Waffen. Als von Wallern Zurückbleibende ihren Angehörigen Butterwecken als Reiseproviant brachten, verschwanden diese in der Lagerkanzlei, wo sie als Beute aufgestapelt wurden. Einige hatten den Mut, gegen diesen Raubzug Beschwerde einzulegen, worauf einige wenige der geraubten Sachen zurückgegeben wurden und bei den nächsten Transporten diese Diebereien unterblieben. Die Verpflegung im Lager bestand aus schwarzem Kaffee (Muckefuck) und Wassersuppen.
Am Joseftag, dem 19. März, einem herrlichen Frühlingstag, brachte man uns unter Gendarmeriebegleitung zum Bahnhof. Wieder in Viehwaggons, die völlig überfüllt waren, ging es auf die Reise ins Ungewisse. In Furth im Wald, endlich auf deutschem Boden, wurden uns Zettel in die Hand gedrückt, auf denen wir angeben konnten - es klang wie ein Hohn - wohin wir »zu gehen wünschten«. Zur Auswahl standen Hanau, Höchst und Rüdesheim. Wer von uns Winterbergern hatte bis dahin schon etwas von Hanau gehört? Vielleicht etwas von Höchst wegen seiner Industrie, sicher von Rüdesheim am Rhein, aber von Hanau? Schon in Prachatitz waren wir »entlaust« worden, ein Vorgang, der uns mehr amüsierte als kränkte, und den die, die ihn anordneten unter Umständen nötiger hatten als wir. Auch in Furth wurden wir wieder »entlaust« ...
Die Weiterfahrt von Furth wurde zu einer qualvollen, menschenunwürdigen Reise. Ab und zu wurde der Transportzug angehalten. Bestimmte Personen mussten aus den Wagen klettern und draußen antreten. Es wurde mit Fingern gezeigt, palavert, anscheinend suchte man Kriegsverbrecher. Die Betroffenen hatten Angst, aus unerforschlichen Gründen zurückgehalten zu werden und nicht mit den Angehörigen weiterfahren zu dürfen. Manchmal hielt der Zug, und alles musste aussteigen, damit wir entlang der Bahnlinie unsere aufgestaute Notdurft verrichten konnten. Jeder fürchtete, den richtigen, »seinen« Waggon nicht rechtzeitig wieder zu finden. Es kam auch vor, dass Männer während der Fahrt die Schiebetür etwas öffneten, um einer alten Frau, die sie an den Armen festhielten, die Erledigung ihres dringenden Geschäfts zu ermöglichen.
Nach einer endlos scheinenden Fahrt wurden einige Waggons, darunter auch der unsere, in Hanau abgekoppelt. Die anderen fuhren weiter in Richtung Höchst und Rüdesheim. Wir »Hanauer« hatten nur noch eine kurze Strecke in Richtung Fulda vor uns, bis wir in Nieder-Rodenbach endlich die Waggons verlassen konnten, während die letzten nach Langenselbold weiterfuhren. Am Bahnübergang warteten Ochsenkarren, von Bauern aus der Umgebung geführt, die unser Gepäck aufnahmen. Ein Teil der Winterberger wurde nach Rückingen gebracht, der andere den Berg hinauf nach Ober-Rodenbach. Ein kleines Dörfchen von dreihundert Seelen war das Ziel, das für viele von uns endgültig die »neue« Heimat werden sollte.
Ungefähr sechs Wochen lebten wir im Gasthaussaal des Anton Peter auf Strohlagern. Es gab nur eine »sanitäre« Anlage auf dem Hof und nur eine einzige Wasserpumpe. Nur unter schwierigsten Bedingungen konnte etwas gekocht werden. Schließlich waren alle auf die bäuerlichen Anwesen aufgeteilt und in Notwohnungen eingewiesen. Manchen Familien gelang es, in anderen Gebieten Deutschlands Fuß zu fassen; den meisten war Bayern am liebsten. Mit der Zeit fanden getrennte Familien zusammen, und mit weiteren Transporten kamen wieder Freunde und Bekannte aus der Heimat nach Hessen. Dort hatten wir erhebliche Verständigungsschwierigkeiten mit der ortsansässigen Bevölkerung und diese mit uns, denn der oberhessische Dialekt und unsere Winterberger Mundart weisen keine Gemeinsamkeiten auf. Ähnlich soll es auch den Winterbergern im Schwäbischen ergangen sein. Sehr schwer war das besonders für die Kinder, die zu Ostern 1946 in Ober-Rodenbach eingeschult wurden.
Nach und nach normalisierte sich das Leben. Wir, die von daheim Verjagten, trotzten der schier ausweglosen Situation, bauten das zerstörte Deutschland mit auf und schufen uns neue Existenzen. Die allermeisten von uns können stolz sein auf das, was sie durch Fleiß, Können und Zuverlässigkeit erreicht haben. Der Krieg hat unendliches Leid über die Welt gebracht. Uns hat er auch noch die Heimat, die geliebte und unvergessene, genommen. Vielleicht aber hat es das Schicksal trotz allem gut mit uns gemeint. Ob wir nämlich daheim unter den dort herrschenden politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen und als rechtlose Sklaven, denen man nicht einmal die Erziehung der Jugend in ihrer Muttersprache gewährt, glücklich wären? Diese Frage muss jeder für sich selbst beantworten. . .
Quelle: Helga Großmann-Smola: Fahrt ins Ungewisse in: Hans Harwalik – Fritz Pimmer (Hrsg.), Winterberg in Böhmerwald, Freyung 1995, S. 568 – 573.