Prachatitz
Helmut Pechtl: Der Anfang vom Ende, In: Grenzstadt Prachatitz in Böhmerwald, Heimatkreis Prachatitz 1986, S. 93 – 97.
Am 10. Oktober 1938 erreichte die deutsche Wehrmacht gegen Mittag ohne den geringsten Widerstand seitens der Tschechen unsere Heimatstadt. Tschechische Beamte, die vom Landesinnern nach Prachatitz versetzt worden waren, waren noch dabei, ihre Habe zu verladen und konnten unbehindert über die Alt-Prachatitzer Straße nach Hussinetz ziehen. Die deutsche Bevölkerung, die trotz Beschimpfungen und Bedrohungen ausgeharrt hatte, konnte erst beim Anblick der deutschen Wehrmacht aufatmen. Die Freude über die Befreiung unserer Heimat vom tschechischen Joch war übergroß. Die deutsche Wehrmacht übernahm die Kasernen, die Ortskommandantur und bezog im Rathaus ihre Dienststelle.
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Im Übereifer wurden einige Tschechen verhaftet, besonders solche, die sich 1918 bei Verhaftungen von deutschen Bürgern hervorgetan hatten. Aber schon nach 12 Stunden wurden sie entlassen. In Prachatitz wurde nicht ein politischer Gegner verhaftet. Der kommunistische Stadtrat J. F. konnte sich frei bewegen, ja er wurde sogar später bei der NSV (Volkswohlfahrt) als Lagerist eingesetzt. Wir waren alle so froh über die Befreiung, dass keine Rachegefühle aufkamen. Viele der ortsansässigen Tschechen blieben in der Stadt und versuchten, mit den neuen Verhältnissen fertig zu werden.
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Die politische Eingliederung wurde im November 1938 großartig gefeiert. Der Ringplatz wurde mit Fahnen und Transparenten geschmückt. Der SA-Musikzug brachte über den Sender München das Morgenkonzert, die Formationen des ganzen Kreises marschierten zum Appell auf, Gauleiter Wächtler hielt eine Ansprache und anschließend nahm er den Vorbeimarsch ab.
Die Bevölkerung musste verschiedene Umstellungen hinnehmen. Über Nacht wurde von Links- auf Rechtsverkehr umgestellt. Hart getroffen hat die Bevölkerung der Umtausch der bisherigen Währung in Reichsmark. Für eine Reichsmark wurden 10 Tschechenkronen berechnet. Dies entsprach nicht dem Kaufwert der Krone. Mit diesem Umrechnungskurs brachten die Sudetendeutschen ein großes finanzielles Opfer für das Reich.
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Mitte 1939 war unsere Heimatstadt politisch und verwaltungsmäßig voll eingegliedert. Es wurden Wehrdienst geleistet und Steuern an das Reich entrichtet. Die Steuersätze waren höher als bisher.
Dazu gibt es eine nette Geschichte: Ein Arzt, der sehr beliebt und durch seinen Humor bekannt war, auch wegen seiner bedächtigen Sprache, die er führte, bekam seinen ersten Steuerbescheid, der natürlich höher ausfiel als bisher. Daraufhin ging er zum Finanzamt und erklärte den Beamten: "Wissen Sie denn nicht, dass wir 1938/39 immer am so genannten Adolf-Hitler-Platz standen und 'Siegheil' rufen mussten. Wenn ich gewusst hätte, dass das 'Siegheil' so teuer ist, hätte ich nicht gerufen". Ja, so warns', die alten Prachatitzer, humorvoll und oft mit beißender Ironie.
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Eine bittere Enttäuschung war für uns der Einmarsch der Wehrmacht in die Rest-Tschechoslowakei. Karl Spinka schreibt zu diesem Ereignis die treffenden Sätze: "Die freudvolle Erwartung, nunmehr sei für unsere Stadt endlich die ersehnte Friedenszeit angebrochen, erwies sich leider als trügerisch. Die Mehrheit der Prachatitzer war über die Errichtung des 'Protektorat Böhmen und Mähren' keineswegs begeistert, das ungute Gefühl, dieser Gewaltakt könnte eine unheilvolle Entwicklung auslösen, war in der Grenzstadt der bitteren Erfahrung mit erlittenen Rechtsbrüchen, vorhanden".
Gretl Wimbersky: Die Vertreibung, In: Grenzstadt Prachatitz in Böhmerwald, Heimatkreis Prachatitz 1986, S. 99 – 104.
Ein Aufforderungsschein kam ins Haus, er besagte, dass wir uns (oft binnen zwei Stunden und auch, wenn die Leute gerade in der Kirche oder sonst wo waren) fertig machen mussten für den Abtransport. Von zwei, mit aufgepflanztem Bajonett bewaffneten Polizisten beobachtet, sollten wir einpacken, etwa 50 kg und nichts Wertvolles, Gutes. Was das war, bestimmten diese Aufpasser. In der Wohnung wurde mir da schon manches genommen, aus dem Koffer geschmissen. Hinter uns wurde die Türe versiegelt. Der Vater meiner Schwägerin ließ symbolisch für uns alle Gezeichnete als letzte Tat in seinem Heim den Perpendikel der Wanduhr stillstehen … Meine Mutter wollte noch mal an den Weihwasserkessel, um mir zum Ausgang die Stirn zu besprengen, man schob sie höhnisch weg - sie wollte noch mal Abschied nehmen vom Geschäft, durch Laden und Werkstatt gehen, man stieß die weinende Frau zum Tor hinaus. - Hinter dem Leiterwagen gingen wir schluchzend durchs geliebte Heimatstädtchen, hinauf zur Kaserne, dem Lager der Deutschen.
Dort wurde noch mal kontrolliert, gefilzt. Erschütternde Szenen spielten sich (besonders bei der Leibesvisitation) ab; auf Fotos, Geld, Sparbücher, Dokumente, auf alles, was deutsch geschrieben war oder etwas Wert hatte und was mancher doch noch retten wollte, waren sie besonders scharf. Mit der zerwühlten Habe mussten wir uns dann aufs dürftige Strohlager begeben. Wir Jüngeren wurden aufgefordert, noch mal die gelbe Armbinde umzutun und mussten dann beim Kasernentor die neu Ankommenden erwarten, ihr Gepäck abladen, in den Kontrollraum und zum Asyl schleppen. Koffer, Kisten, Säcke, Taschen, Binkel, die letzte Habe der Armen, wurden oft brutal auseinander gerissen. Ich versuchte mutig so manchem Landsmann zu helfen, habe heimlich gefragt: "Hobns wos zan verstecka?" Man händigte mir ängstlich Dinge aus, die dem einen oder anderen eben am Herz lagen, an denen mancher besonders hing, und ich lief mit Herzklopfen hoch zu unserem Notlager und verbuddelte die Sachen dort, und wenn es dunkel und ruhig war, gab ich sie vertraulich den dankbaren Menschen wieder. Irgendwie hatte mancher doch noch etwas, das ihm lieb war, vor den Kontrollen vorher gerettet - Urkunden, Aufzeichnungen, ein Sparbuch, ein Hochzeitsbild oder das vom gefallenen Sohn. . . Ein alter Herr kramte zitternd im "Schößlfrack" und holte drei Goldstücke heraus, ein anderer eine kostbare Taschenuhr, eine prächtige Pfeife ... ein Mütterlein vertraute mir einen teuren Rosenkranz an, eine Nachbarin eine Reliquie und ein Amulett. Aber die kleine Hilfe war nur ein Tropfen auf den heißen Stein, das Beste wurde konfisziert, blieb daheim oder wurde uns entrissen.
Ida Sitter: "Ausflug" aus dem Lager in Prachatitz, In: Die Schneedörfer und Orte der Umgebung in Böhmerwald, Augsburg 1988, S. 314.
Wir wurden am Pfingstdienstag 1946 ins Lager gebracht. Bei der Durchsuchung fanden sie bei meinem Vater selbst angebauten Tabak. Natürlich wurde ihm dieser weggenommen. Meinen Vater kränkte dies sehr. Als der Transport zusammengestellt war konnten wir nicht mitkommen, da von meiner Schwester Marie das Kind schwer erkrankt war. Ich musste im Lager in der Küche mithelfen. Ein Onkel aus Wossek brachte uns etwas Essbares ins Lager, musste es aber beim Tor abgeben. So waren wir eigentlich so halbwegs versorgt, nur Vater jammerte täglich um seinen geliebten Tabak. Weil ich ihn nicht mehr länger leiden sehen konnte, kam mir der Einfall, vielleicht kann ich noch mal nach Hause gehen. Zu den Soldaten, die den Eingang des Lagers bewachten sagte ich dann, ob ich nicht zu meinen Onkel nach Wossek gehen könnte, um ihm Heueinfahren zu helfen. Zur Antwort bekam ich dann nur, was ich ihnen für diesen Freigang mitbringen würde.
Da ich auf diese Frage nicht gefasst war, fiel mir in der Aufregung nur ein "Honig". Sie sagten mir zu, aber mit der Auflage: "Den anderen Tag um 7.00 Uhr kannst du gehen und um 17.30 hast du wieder hier zu sein, sonst kommst du nicht mehr herein". Pünktlich um 7.00 Uhr verließ ich dann am anderen Tag das Lager und ging zu Fuß von Prachatitz bis Oberschneedorf. Ich musste auf Feld- und Schleichwegen gehen, um nicht erwischt zu werden, um 10.00 Uhr kam ich bei "Eduardn Wenzl" an. Ich wusste, dass die noch daheim waren und mein einziger Gedanke auf den Weg dorthin war, hoffentlich haben die Honig. Gottseidank wurde ich nicht enttäuscht. Ich ging dann weiter zu meinem Elternhaus und suchte als erstes den Stoff, den wir noch vor dem Abtransport versteckt hatten. Nun wickelte ich mir den Stoff um meinen Körper und steckte immer die selbst angebauten Tabakblätter dazwischen. Zog meine Kleider wieder darüber und schon war der Tabak verstaut. Zum Glück hatte mich dabei niemand beobachtet. Ich nahm dann noch eine große Kanne mit und ging nach Schönau weiter. Dort war noch meine Schwester Lorie. Die war ganz schön erstaunt, als ich bei ihr ganz erschöpft ankam und packte mir schnell in einen Rucksack 2 Laib Brot ein und etliche Flaschen mit Milch für die kranke Nichte. Die Nachbarin gab mir auch noch einen Laib Brot und so eilte ich schwer aufgepackt wieder zu Eduard Wenzl zurück. Die hatten in der Zwischenzeit Butter gerührt. Die Butter gaben wir in die große Kanne und gossen Buttermilch darüber, damit die Butter niemand bemerkte. Nun hatte ich auch noch die Kanne zu schleppen. Nun stieg schon das Angstgefühl in mir hoch, nicht pünktlich das Lager zu erreichen. Man begleitete mich noch ein Stück und dann marschierte ich alleine weiter. Als ich in Schweinetschlag ankam, war ich schon dem Umfallen nahe. Doch die Angst, ich könnte mich verspäten, trieb mich immer weiter. Die Schuhe hatten meine Füße schon aufgewetzt, so ging ich das letzte Stück barfuss. Weinend quälte ich mich weiter, denn durch das Barfuss gehen war bald die ganze Fußsohle aufgerissen. Pünktlich um 17.30 Uhr kam ich dann beim Lager an und die Soldaten zeigten lachend auf meine blutenden Beine. Das einzige nach was sie mich fragten war, ob ich auch den versprochenen Honig nicht vergessen hätte. Ohne lange zu warten, nahmen sie mir einfach meinen Rucksack ab, nahmen sich den Honig heraus und die anderen Sachen ließen sie mir freundlicherweise. Am anderen Tag konnte ich nicht einmal meinen Küchendienst im Lager versehen, da ich mich vor Schmerzen nicht bewegen konnte.
Martha Wimbersky: Das Schicksaljahr 1945, In: Grenzstadt Prachatitz in Böhmerwald, Heimatkreis Prachatitz 1986, S. 105 – 109.
Nachdem es ruchbar wurde, dass wir ausgesiedelt werden sollten und es immer schlimmere Schikanen gab, entschlossen sich viele zum freiwilligen Verlassen des Landes. Das Aussiedleramt befand sich im "Hotel Säumerglocke". Dort wurde das Gepäck versiegelt; 40 kg für 1 Person waren nur erlaubt. Auf amerikanischen Wagen kamen so manche über die Grenze. Solange die Amerikaner anwesend waren, waren Deutsche bei ihnen beschäftigt. Sie hatten keine Nahrungssorgen. Lebensmittel waren im Überfluss vorhanden. Im Spätherbst zogen die Amerikaner ab. Die Lage der Deutschen verschlechterte sich zusehends.
Raimund Töpfl
Gedächtnisniederschrift von Raimund Töpfl, der in Schattawa im Kreis Prachatitz (Böhmerwald) geboren wurde und 1945 in das Internierungslager Wallern kommt:
In: Emil Franzel: „Die Vertreibung. Sudetenland 1945/1946“, Podzun-Verlag, Bad Nauheim 1967.
Am 11. 6. 1945 um 10 Uhr vormittags wurde ich von tschechischen Partisanen und Gendarmen in meinem Hause in Mü1lerschlag Nr. 31 aufgefordert mitzukommen. Ich wurde auf den Dorfplatz geführt, wo bereits zehn andere Ortseinwohner festgehalten wurden. Es stand ein Lastauto da, auf dem sich Männer, Frauen und Kinder aus der Umgebung befanden. Wir mussten zusteigen. .. Von meinen Dorfeinwohnern wurden folgende mit mir eingeliefert:
Adolf Markowetz, Bauer, Josef Merwald, Bauer, Raimund Stögbauer, Häusler, Karl Andraschko, Holzhauer, Johann Poidinger, Bauer, Rudolf Pablitschkom, Schuhmacher, Adolf Winkelbauer, Bauer, Adolf Olzinger, Drechsler, Franz Tomaschko, Holzhauser, Johann Palitschek, Häusler.
Wir wurden nach Wallern gebracht und dort in die Gendarmeriekaserne eingeliefert. In Wa1lern kam noch der Fuhrmann Otto Kempinger aus Wallern zu uns, und um 16.30 Uhr ging es in Richtung Bierbrücke weiter, wo wieder der Straßenarbeiter Vinzenz Sitter zugeladen wurde. Wir fuhren nun über Oberhaid nach Brenntenberg, wo der Angestellte Josef Marko zugeladen wurde. Dann ging es nach Prachatitz. Das Lastauto war so überfüllt, dass viele vor Hunger und Durst ohnmächtig wurden.
Auf der ,Schlagbank'
Um 21.30 Uhr nachts kamen wir in Prachatitz an und wurden in die neue Kaserne eingeliefert. Hier wurden wir sofort beim Eintritt mit Fußtritten und Gewehrkolben bearbeitet. Wer Lebensmittel dabei hatte, dem wurden sie von den Tschechen abgenommen... Nun begann das Einzelverhör mit der Niederschrift der Aussagen. Wir mussten uns a1le mit dem Gesicht an die Wand stellen in ,Stillgestanden', während einer nach dem andern einvernommen wurde. Wir durften uns nicht umsehen und nicht rühren, und wenn der eine oder andere vor Ohnmacht umfiel, dann mussten wir alle ,Turnübungen' machen. Dieser Zustand dauerte bis 3 Uhr morgens. Während der Einvernahme wurde jeder mit Gummiknüppeln, Faust, Gewehrkolben und Kinnhaken ,bearbeitet´, so dass die meisten blutüberströmt und entstellt aus dem ,Einvernehmeraum' herauskamen. Ich war der letzte bei der Einvernahme und wurde nur beim Verlassen des Raumes mit Fußtritten und Kolbenstöße hinausbefördert. Nach dem Verhör wurden wir in die Kerker des Bezirksgerichts und in die einzelnen Zellen verteilt. Es war inzwischen 5 Uhr morgens geworden. . .
Jeden Abend zwischen 10 und 11 Uhr, wo wir gerade nach der schweren Tagesarbeit im ersten Schlafe waren, wurde im ,Dienstraum' gearbeitet. Es wurden nämlich durchschnittlich Nacht für Nacht drei bis vier Gefangene herausgeholt, mussten sich im ,Dienstraum' auf ein Bettgestell mit dem Rücken nach oben legen, nur in der Unterwäsche, Männer wie Frauen, und dann wurde jeder einzelne ,im Dreschertakt' von vier Tschechen mit Gummiknüppeln geschlagen. Es war ein herz zerreißendes Schreien, das uns alle in der Zelle wahnsinnig machte, und jeder hatte Angst, dass auch er im nächsten Augenblick herausgeholt wird. Besonders qualvoll wurde mein mitgefangener Ortseinwohner Johann Palitschek gemartert. Ich habe bei ihm allein 150 Hiebe mitgezählt und sein Heulen mit anhören müssen. Scheinbar war aber seinen Quälern durch sein Heulen und Schreien noch mehr ,Arbeitslust' gekommen, und sie warfen ihn auf den Fußboden, wo sie ihn erst recht mit Fußtritten so ,bearbeiteten', dass sie ihm zwei Brüche traten. Da er nun nach solcher Misshandlung nicht mehr selbst gehen konnte, wurde er bis zur Zellentür geschleift und in unsere Zelle geworfen. Er war schrecklich zugerichtet, hatte keine unverletzte Körperstelle mehr, war ganz mit Blut bedeckt und krächzte nur, Raimund, ich bitte Dich, verlass mich nicht.' Ich selbst konnte ihm aber seine Schmerzen auch nicht stillen. Er konnte weder stehen noch liegen, da ihn der ganze Körper wegen der vielen offenen Wunden schmerzte. Jede ärztliche Hilfe wurde ihm verweigert, sogar die erbetene Bauchoperation abgeschlagen. Nicht viel besser erging es einem anderen Ortseinwohner, dem Johann Poidinger. Auch er wurde so geschlagen, dass er bewusstlos liegen blieb, wurde dann in diesem Zustand, da er gar kein Lebenszeichen mehr gab, zur Brunnenpumpe geschleift und dort solange mit Wasser begossen, bis er wieder zu sich kam und dann in die Zelle geworfen. Ich war vier Wochen in dieser Zelle und musste so Nacht für Nacht unfreiwillig das Martyrium mit mitgefangenen Volksgenossen anhören, das mich seelisch mehr mitnahm als die schwere Tagesarbeit. Wir fürchteten alle schon abends die Rückkehr aus der Arbeit, weil wir nicht wussten, wer heute wieder zur ,Schlagbank' geführt wird. Von unseren Ortseinwohnern wurden am meisten gequält: Johann Palitschek, Johann Poidinger, Rudolf Pablitschko, Adolf Markowetz und Adolf Winkelbauer. Alle sind bereits ausgesiedelt und wohnen in Bayern. Nach vier Wochen kamen wir wieder zurück nach Prachatitz in die Kerker des Bezirksgerichtes. Ich wurde nun krank, denn bei meinem Alter konnte ich das ,Essen' nicht vertragen und bekam einen schrecklichen Durchfall, wobei meine Körperkräfte zusehends schwanden. Das ,Essen' bestand nämlich aus kleinen ungeschälten Kartoffeln, über die ein dünner Absud gegossen wurde. Da mein Gesundheitszustand sich immer mehr verschlimmerte, wurde der deutsche Primararzt des Krankenhauses herbeigeholt, der meine sofortige Einlieferung in das Krankenhaus anordnete. Dies wurde jedoch mit dem Bemerken abgelehnt ,Die deutschen Schweine sollen krepieren.' Er verschrieb mir nun ein Rezept und selbst dieses wurde mir nicht anerkannt. Nur dem glücklichen Umstand, dass mir von der Küche eine dickere Graupensuppe vorgesetzt wurde, verdanke ich es, dass ich am Leben blieb und so Ende August 1945 als einer der wenigen so bald wieder in mein Heimatdorf zurückkehren konnte.
Mathilde Kreitmaier
Mathilde Kreitmaier beschreibt Vertreibung aus Sablat und Wolletschlag, Sammellager Prachatitz, mitgenommene und beschlagnahmte Sachen, Zwangsarbeit, Weg durch Bayern, neue Heimat in Untermaxfeld, westlich von Ingolstadt:
Mathilde Kreitmaier geb. Thuma, Kindheit und Vertreibung, In: Kieweg, Herbert, Weasch’n, Wusch’n und Gulatsch’n. Die Pfarrei Sablat in Geschichte und Geschichten, 1994.
Im Frühjahr 1946 mussten wir unsere geliebte Heimat verlassen, die unsere Ahnen unter großen Mühen und Entbehrungen der Wildnis einst abgerungen hatten. Innerhalbweniger Stunden mussten wir unser Haus- und unser Hab und Gut zurücklassen. Nur das Notwendigste durften wir in das Sammellager nach Prachtitz mitnehmen. Jeder Person war es lediglich gestattet, Gepäck bis zu einem Gesamtgewicht von 50 kg mitzunehmen, so insbesondere ein Federbett, warme Kleidung, Schuhe, Blechgeschirr und einige Nahrungsmittel. Schmuck und wertvolle Gegenstände wurden - soweit sie uns nicht schon bei den Plünderungen unmittelbar nach Kriegsende abgenommen worden waren - von den Tschechen im Lager in Prachatitz beschlagnahmt. Zwischen dem 7. und 13.6. 1946 wurden fast alle Deutschen der Gemeinde Wolletschlag in dieses Lager gebracht. Die arbeitsfähigen Jugendlichen und Erwachsenen wurden tagsüber in Prachatitz zu Reinigungsarbeiten herangezogen. Am 17.6. 1946 schlug dann endgültig die Stunde des Abschiedes. In etwa 40 Viehwaggons wurden die im Lager zusammengepferchten Deutschen in einem Sammeltransport mit der Eisenbahn aus ihrer Heimat abtransportiert. In jedem Waggon wurden 30 Personen, Erwachsene und Kinder, Gesunde wie auch Hochbetagte und Kranke mit ihrem Gepäck eingesperrt. Nur durch ein kleines vergittertes Fenster und die spaltbreit geöffnete Tür fiel etwas Licht in diesen dunklen Käfig. Besonders für Familien mit kleinen Kindern und alten Leuten war diese Fahrt eine Tortur. Unsere damals 80 Jahre alte Großmutter wurde unterwegs krank, doch sie ertrug auch diesen Abschnitt der Vertreibung ohne Klagen.
In Furth im Wald wurden wir von den Amerikanern und deutschen Behörden übernommen. Hier bekamen wir erstmals frische Verpflegung. Im zerbombten Schwandorf war der nächste etwas längere Halt. Unterwegs hielten wir auch kurzfristig schon an kleineren Bahnhöfen an. Über Nürnberg kamen wir schließlich in Augsburg an. Dort verließen wir den Zug. Die Behörden waren mit der Aufnahme der etwa 1200 Vertriebenen, die mit diesem Transport aus Prachatitz in den Westen gekommen waren, überfordert. Nach dem dreitägigen Transport fanden wir schließlich in einer bombardierten Strickerei eine mehr als notdürftige Unterkunft. Da gerade Fronleichnamsfest war, wurde im Lager auch eine Messe gelesen. Am folgenden Tag wurde der Transport aufgeteilt. Die Handwerkerfamilien brachte man nach Füssen im Allgäu; die Bauern und Häusler mit ihren Familien kamen in ein Lager nach Neuburg an der Donau. Das Lager war im Studienseminar eingerichtet. Hier waren wir während der nächsten acht Tage untergebracht. Durch die Strapazen des Transportes und die mangelnde Ernährung waren wir alle schon recht kraftlos.
Wiederum eine Woche später wurden wir zusammen mit etwa 30 anderen Leidensgenossen auf einem offenen Lastwagen verfrachtet und nach Untermaxfeld im Donaumoos gebracht. Mittlerweile schrieb man den 1. Juli. In dieser flachen und für uns daher ungewohnten Gegend mit schwarzer Moorerde war uns recht bange nach den vertrauten Böhmerwaldbergen. Wir ahnten nicht, dass Untermaxfeld auf einige Jahre unsere neue Heimat werden sollte, denn wir klammerten uns an die Hoffnung, bald wieder in unsere Heimat zurück zu dürfen. Im Saal des Dorfwirtshauses wurden wir einquartiert. Auf dem Fußboden war reichlich Stroh aufgeschüttet, auf welchem wir erstmals nach vielen Tagen tiefen und erholsamen Schlaf fanden. Die Wirtin war - was damals keine Selbstverständlichkeit war - eine gutherzige und freundliche Frau.
Sie stellte uns ihren großen Waschkessel zur Verfügung, in welchem wir uns eine Kartoffelsuppe kochen konnten. Die Kartoffeln hatten einige von uns von Bauern bekommen. Auch einige Liter Milch kamen für die Kinder zusammen. Da gerade die Zeit der Heuernte war, halfen wir den Wirtsleuten beim Heuwenden mit recht unhandlichen, schweren Rechen, die wir von unserer Heimat her nicht gewohnt waren. So verdienten wir uns in Bayern unsere erste "Brotzeit". Mehr erwarteten wir an Lohn nicht und bekamen wir auch nicht, denn damals war die Arbeitskraft in der Landwirtschaft nichts wert.
Wieder einige Tage später wurden wir Vertriebenen an die Bauern in Untermaxfeld und in der näheren Umgebung aufgeteilt. Mutter, Großmutter und Bruder bekamen in Untermaxfeld eine kleine Dachwohnung, wo fortan meine Mutter für die Bauern Wolle spinnen mussten. Als Lohn erhielt sie einige Lebensmittel. Ich selbst kam nach Stengelheim zu einem Bauern, wo ich mich einige Jahre später mit einem Landwirt verheiratet habe. Meine Schwester kam zu einer Bäuerin nach Obermaxfeld, deren Mann in Russland vermisst war. Mit ihren sieben kleinen Kindern hatte sie damals einen besonders schweren Stand. Meine Mutter, mein Bruder und meine Schwester fanden später in Schrobenhausen in der "Neuen Heimat" im Jahre 1959 letztendlich. tatsächlich eine neue Heimat. In jener Siedlung, in der heute zahlreiche Böhmerwäldler leben, errichteten sie sich ein schönes Eigenheim. Unsere früheren Nachbarn hat es in viele Gegenden Bayerns verschlagen. So kamen "s'Englbertn" nach Meitingen, wo sie auch heute noch leben. Andere sind im Allgäu ansässig geworden. Wieder andere, wie "s' Frounzn", gelangten in die Oberpfalz. Der Schmerz der ersten Jahre über den Verlust der Heimat ist gewichen; aber mit Wehmut denke ich immer wieder an meinen geliebten Böhmerwald zurück.