Rosshaupt
Helma Keller
Tagebucheintrag von Helma Keller am 12. Mai 1945, die mit einer Schülergruppe über dietschechisch-bayerische Grenze flüchtet.
Quelle: Sudetendeutsches Archiv München.
12.5. Neuhausl - Rosshaupt (Rozvadov). Wir freuen uns, heil an der Grenze zu sein. Morgen werden wir in Deutschland sein. Dann ist alles viel besser. So denken wir - und werden bitter enttäuscht. Die Amerikaner halten den immer stärker werdenden Flüchtlingsstrom nach Bayern an. Uns bleibt nur das Campieren im Freien auf einer Wiese. Die Nacht ist kalt und feucht. Nebel ziehen auf. Hunderte sitzen auf dieser Wiese gleich uns fest: Berliner, Sachsen, Schlesier und Pommern. Frauen mit Babys, Greise, allein gebliebene Kinder - einzelne und kleine Grüppchen. In Kinder- und Handwagelchen versuchen die Leute ihre Habe zu retten. Meinen Koffer hatte ich schon längst stehen lassen müssen, weil ich ihn nicht mehr zu tragen vermochte. Habe nur noch das, was ich am Leibe trage - zum Glück noch einen Wintermantel, eine Steppdecke und, es mag komisch klingen, eine Alt-Blockflöte. Anscheinend bleibt die Wiese für längere Zeit unsere "Unterkunft". Um nicht der tödlichen Langeweile zu verfallen, mache ich mit "meinen" Kindern KLV-Lagerbetrieb [KinderLandVerschickung], das heißt, wir singen erzählen, turnen und machen Spiele. Die Lehrerin versucht, ohne jegliches Hilfsmittel, Unterricht zu halten. Jeden Abend singe ich meinen Kindern ein Lied, wie gewohnt und spiele auf der Flöte. Alle auf der Wiese warten schon bald auf diesen Tagesausklang, um dann unter dem Sternenzelt vielleicht ein paar Stunden ihre Lage vergessen zu können. Die Amis geben den Kindern Weißbrot und Schokolade. Sie rufen: "Hello Fraulein" und geben den Mädchen und Frauen ganze Rationspakete. Ich gehe dort nicht hin.
22.5. Heute ist mein 19.Geburtstag. Zwei Berliner von der Wiese und die Kinder singen für mich ein Ständchen. Es war, trotz aller widrigen Umstände, ein schöner Tag, denn wir waren jung und voller Lebensmut.
4.6. Den Amis gefällt es endlich, uns weiterziehen zu lausen. Wir dürfen aber nicht geradewegs über die nahe Grenze, sondern müssen einen Umweg über St.Katharina, Linsendorf, Dianaberg bis wieder an die Grenze bei Eisendorf (Ruštejn) machen. Als wir dort ankommen, war die Grenze seit einer halben Stunde gesperrt. Wir sind dennoch nicht entmutigt und übernachten herrlich auf einem Heuboden.
5.6. Wir sind endlich in Bayern! Wir werden als "Nemci" nicht mehr gefährdet sein. Unser Jubel erfährt aber alsbald Grenzen. Die Flüchtlinge werden von einem katholischen Geistlichen in Empfang genommen und an die nächste Verpflegungsstelle weitergeleitet. Als ich mit meinem Häuflein ankomme sagt er wörtlich: "Für Nazis haben wir nichts übrig!" - Das müssen meine erzkatholischen Kinder erst verdauen. Wir gehen trotzdem mit der großen Masse über Pfrentsch nach Waidhaus. Dort ist in der Schule eine Verpflegungsstelle.