Winterberg
Hans Harwalik – Fritz Pimmer (Hrsg.), Winterberg in Böhmerwald, Freyung 1995, S. 538 – 550.
Seit dem 8. Oktober 1938 waren wir also »beim Reich«. Es dürften nur wenige gewesen sein, die darüber nicht glücklich waren.
Nach den Tagen des Aufbruchs und der freudigen Unruhe normalisierte sich langsam das Leben in der Stadt. Manches war anders geworden. Da war das Gefühl, nun Herr im eigenen Hause zu sein. Man hörte keine fremdsprachigen Laute in den Gassen, und niemand vermisste das Grün der ungeliebten tschechischen Uniformen. An seine Stelle war das Feldgrau »unserer« Wehrmacht getreten, die den Winterbergern nicht nur als willkommene Befreier sympathisch war, sondern ihnen auch durch die betont soldatische Disziplin ihrer Männer imponierte.
So sah man zuerst nur belustigt zu, wie die Soldaten die Winterberger Geschäfte leer kauften und wie die Vorräte an guten Waren, sehr zum Vergnügen der Geschäftsleute, rasch dahinschwanden. Im Sudetenland gab es zum Beispiel Textilien von guter Qualität zu günstigen Preisen. Es fehlte der Bevölkerung nur an Geld, diese Waren auch kaufen zu können. Im Altreich dagegen waren schon so manche Waren aus Ersatzstoffen hergestellt. Der günstige Umrechnungskurs der Reichsmark zur Tschechenkrone von 1 : 12 war ein weiterer Anreiz, sich im Sudetenland mit Waren einzudecken. Weil aber die Geschäftsbeziehungen zu den Herstellern in der Rest-Tschechoslowakei vorerst ruhten und die Transportwege zu den sudetendeutschen Industriezentren sehr umständlich waren, mangelte es bald an verschiedenen Erzeugnissen, so dass sich die Wehrmacht veranlasst sah, eine Paketsperre für das Militär anzuordnen, damit die Versorgung der Zivilbevölkerung gewährleistet blieb.
Auch die nicht gerade geringen Biervorräte der beiden Winterberger Brauereien waren bald aufgebraucht. Ersatz kam durch Bier aus Bayern, das allerdings doppelt soviel kostete wie unser Winterberger Gebräu. Der Preis für den halben Liter stieg von 1. 50 Kronen auf 3 Kronen. Da sich vorerst Löhne und Gehälter nicht änderten und auch die Preise anderer Waren stiegen, war das ein Wermutstropfen in der allgemeinen Freude.
Andererseits wurde gleich nach dem Einmarsch die NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) tätig. Es wurden an die ärmere Bevölkerung Kleidung, Lebensmittel und Kohlegutscheine verteilt. Von dieser dringend nötigen Aktion zur Linderung der Not besonders in den Familien, deren Ernährer schon jahrelang arbeitslos war, wurde kein Bedürftiger ausgeschlossen.
Mit den Truppen kamen auch Führungskräfte der Partei und ihrer Gliederungen, die sofort für
ihre Formation (SS, SA, NSKK u.a.) zu werben begannen. So mancher wurde damals Mitglied, weil er glaubte, dazu als Dank für die Befreiung verpflichtet zu sein. Die allerwenigsten hatten eine Ahnung vom Wesen des Nationalsozialismus und erst recht konnte keiner wissen, dass er einer Organisation beigetreten war, die wenige Jahre später als verbrecherisch eingestuft werden wird.
Die Gestapo (Geheime Staatspolizei) etablierte sich im Hotel Zentral, in dem bisher die tschechische Staatspolizei residiert hatte. Von hier aus entfaltete sie ihre unheilvolle Tätigkeit. So wurden die verbliebenen deutschen Juden deportiert. Führende Sozialdemokraten und Kommunisten kamen für einige Monate zur »Umerziehung« in das Konzentrationslager Dachau. Bei den Festnahmen und Verhören kam es wiederholt zu Gewalttätigkeiten, von denen die Bevölkerung nur gelegentlich durch Zufall erfuhr.
Schon am 20. Oktober war die vorübergehende Militärverwaltung aufgehoben worden und die Geschäfte gingen auf die staatlichen Verwaltungen über. Der größte Teil des Böhmerwaldes wurde dem Reichsgau »Bayerische Ostmark« mit dem Sitz in Bayreuth zugeteilt und nicht - wie es der Wunsch der Bevölkerung gewesen wäre, der aus verkehrstechnischen Gründen nicht erfüllt werden konnte - dem Sudetenland, das einen eigenen Reichsgau bildete. Damit waren die Winterberger zu Bayern gekommen, dem Land aus dem die meisten ihrer Vorfahren stammten. Ähnlich erging es dem südlichen Zipfel des Böhmerwaldes, der zu Oberösterreich kam.
Die zuerst nur provisorisch untergebrachten Soldaten wurden in die Kaserne hinter dem Bahnhof, von der Bevölkerung »die Baracken« genannt, verlegt. Dort war bis zum 7. Oktober 1938 ein Bataillon „Hraničáři“ (Grenzwächter) stationiert, das von Oberstleutnant Sucharda befehligt wurde, der dann 1945 nach Kriegsende als »Partisanen-General« wieder im Böhmerwald auftauchte. Die deutsche Garnison trug nicht wenig zur wirtschaftlichen Belebung in der Stadt bei. Die Soldaten waren in den Gaststätten gern gesehen, und auch die Geschäftswelt schätzte sie als Kunden. So wie die tschechische Garnison das gesellschaftliche und kulturelle Leben der tschechischen Minderheit vor 1938 befruchtet und positiv beeinflusst hatte, so waren jetzt die deutschen Soldaten eine willkommene Stärkung und Blutauffrischung für die Vereine. Und manche junge Winterbergerin fand an der Seite eines dieser Soldaten der Garnison ihr »Glück fürs Leben«.
Wenig Verständnis hatte man in Winterberg für die Maßnahmen des »Stillhaltekommissars«. Mehrere traditionsreiche Vereine und Genossenschaften wurden aufgelöst oder in reichsdeutsche Verbände mit ähnlicher Zielrichtung übergeführt. So wurde zum Beispiel die Konsumgenossenschaft »Konsumverein« aufgelöst und die wertvollen Bestände der Bibliotheken der Deutschen Jungmannschaft und des Bundes der Deutschen u. a. in die Stadtbücherei eingegliedert. In manchen Fällen ging die Leitung auf Reichsdeutsche über, obwohl verdiente und fähige einheimische Führungskräfte vorhanden waren. Was früher freiwilliges Engagement war, wurde nunmehr zum Zwang: Versammlungen, Appelle, Schulungen hielten die Bevölkerung in Atem. Man konnte sich des Eindrucks nicht ganz verschließen, dass die »müden Neudeutschen «, wie schon vorher die Österreicher, in möglichst kurzer Zeit umerzogen und auf Vordermann gebracht werden sollten. Der Unmut über manchen Missstand hielt sich aber in Grenzen; man entschuldigte ihn mit Obergangsschwierigkeiten und war nach wie vor froh, Deutscher, Reichsdeutscher, zu sein.
Zur Zufriedenheit der Bevölkerung trug viel bei, dass die Arbeitslosen Arbeit bekamen. So mancher, der im Tschechenstaat nie hätte damit rechnen können, wurde nun bei Bahn, Post, Forst und anderswo im öffentlichen Dienst beschäftigt. Mit der Errichtung des Arbeitsamtes im Jahre 1939 konnten alle noch nicht Beschäftigten in ein Arbeitsverhältnis vermittelt werden; sie mussten allerdings Arbeitsplätze da
annehmen, wo sie gebraucht wurden, also besonders in den Industriezentren des Altreiches. Aus dem Recht auf Arbeit wurde mit zunehmendem Bedarf von Arbeitskräften für die Rüstungsindustrie die Pflicht zur Arbeit. So manche kinderlose Dame wurde sehr gegen ihren Willen dienstverpflichtet.
Nicht alle Tschechen hatten in den ersten Oktobertagen des Jahres 1938 die Stadt verlassen. Einige der alteingesessenen tschechischen Familien blieben und führten ihre Geschäfte weiter. Erst gegen Kriegsende wurden deren Geschäfte geschlossen und die Inhaber, soweit es vom Alter her zumutbar war, zu berufsfremder Arbeit verpflichtet.
Auch nach dem Anschluss an das Deutsche Reich suchten viele Bewohner der tschechischen Dörfer jenseits der Sprach- und Protektoratsgrenze in Winterberg Arbeit. In deutschen Geschäften und Unternehmen fanden sie ihren Lebensunterhalt, zum Beispiel als Arbeiter und Angestellte der Wäschefabrik Seidensticker, in der Möbelfabrik Kotschwara, in der Verlagsanstalt und Druckerei J. Steinbrener; sie arbeiteten aber auch als Verkäufer in Einzelhandelsgeschäften. Als immer mehr Winterberger zum Kriegsdienst einberufen wurden, nahmen Tschechen aus den Nachbargemeinden Busk, St. Mářa, Trhonin, Zdikau und aus anderen Orten deren Arbeitsplätze ein.
Die Kinder der in Winterberg verbliebenen Tschechen besuchten zum größten Teil die deutschen Schulen, auch die neu gegründete Handelsschule; sie wurden wegen ihrer Nationalität nicht benachteiligt.
Ende 1938 hatte Winterberg trotz des Abzugs des größten Teiles der tschechischen Bevölkerung wieder 4950 Einwohner, von denen 270 sich als Tschechen bekannten. Deren Zahl dürfte in Wirklichkeit größer gewesen sein, da mancher Opportunist sich Vorteile erhoffte, wenn er sich als Deutscher bezeichnete.
Dass das Ns-Regime nicht kirchenfreundlich war, erkannte man bald auch in Winterberg, wo die Bevölkerung besonders starke Bindungen an die katholische Kirche hatte. Von den Gliederungen der Partei, später auch von der HJ (Hitler-Jugend), wurde »Dienst«, der Pflicht war, öfter absichtlich dann angesetzt, wenn Gottesdienste oder Andachten stattfanden. Das von der Firma Steinbrener errichtete Exerzitien- und Erholungsheim »St. Rafael« wurde in einer Nacht- und Nebelaktion entschädigungslos enteignet. Das Haus, das von Ordensschwestern vorbildlich geführt wurde, diente der Erholung kranker Arbeiter dieses Unternehmens und deren Familienangehörigen und war auch eine Stätte geistlicher Einkehr. Die Schwestern mussten unverzüglich ihre Wirkungsstätte verlassen und durften nur das Inventar der Hauskapelle und ihre persönliche Habe mitnehmen. Das Exerzitienhaus erhielt einen Anbau und wurde Kreisschule der NSDAP.
In Winterberg waren mehrere geistig Beschränkte, arme bemitleidenswerte Wesen, die sich auf ihre Art ihres bescheidenen Lebens freuten. Damals, wo man noch nicht so empfindsam war wie heute, nannte man sie Deppen, Dorfdeppen. Sie gehörten zum Straßenbild, wurden von jung und alt auf gutmütige Weise gehänselt, aber auch mit kleinen Gaben bedacht, wenn sie um solche baten. Wer erinnerte sich nicht des »Hülzernen Prinz« oder des »Dinei« und all der anderen? Mit der Einführung der neuen Ordnung wurde das Betteln verboten. Diese armen, harmlosen Wesen mussten ihre gewohnte Umgebung, ihre armselige Unterkunft im Armenhaus verlassen und wurden in ein Sammelasyl nach Prachatitz abgeschoben. Nur wenige sollen das Kriegsende überlebt haben.
Während solche Aktionen ohne großes Aufsehen durchgeführt wurden, sind andere unter der Regie der Parteipropaganda groß herausgestellt worden. Viele Kinder, von denen nicht wenige als Folge der Notjahre unterernährt und kränklich waren, wurden zur Erholung ins Altreich geschickt. Desgleichen kamen kinderreiche Mütter in Müttererholungsheime. Manchem Arbeiter wurde durch KdF (Kraft durch Freude) der erste Urlaub seines Lebens ermöglicht.
Bis zur Mitte des Jahres 1939 hatte sich die materielle Lage der Winterberger erheblich gebessert. So war es auch kein Wunder, dass viele Interessenten für die Idee des Volkswagensparens gewonnen werden konnten. Am Ringplatz wurde der VW gezeigt. Die Vorführwagen, von Menschentrauben umlagert, waren eine gute Werbung, und so mancher sah sich schon als stolzer Autobesitzer. Dieser Ur-Volkswagen sollte 990 Reichsmark kosten, das war ein Preis, der durchaus erschwinglich schien. Noch ahnte niemand, dass mit den Raten der Volkswagensparer VW-Kübelwagen für den Kriegseinsatz gebaut werden würden. Viele Familien hatten nun die Möglichkeit, ein billiges Rundfunkgerät zu erwerben. Den »Volksempfänger«gab es für nur 35 Reichsmark. Arme kinderreiche Familien erhielten ihn leihweise kostenfrei von der NSDAP.
Die wenigen Monate in Frieden bis zum 1. September 1939 waren zweifellos die glücklichsten im Dasein der Winterberger als Staatsbürger des Großdeutschen Reiches. Zwar hatte die Besetzung der Rest-Tschechei und die Ausrufung des »Protektorates Böhmen und Mähren« bei vielen einen Schock ausgelöst. Niemand billigte diesen, von den arglosen Sudetendeutschen nicht erwarteten Schritt, und viele begannen an der Zuverlässigkeit von Führerworten zu zweifeln. Zu wach war noch die Erinnerung an Hitlers Ausspruch »Wir wollen gar keine Tschechen!«. Besonders den Sudetendeutschen war das aus der Seele gesprochen, waren sie doch nach ihren Erfahrungen froh, der Tschechen ledig zu sein. Und jetzt? Doch man tröstete sich mit der Hoffnung, dass nun das Großdeutsche Reich abgerundet und saturiert sei und man träumte von einem Leben in Frieden und Zufriedenheit.
[…]
Einige Tage nach der Besetzung Winterbergs durch Angehörige der 252. amerikanischen motorisierten Division konstituierte sich der örtliche narodní výbor (Nationalausschuss). Er bestand vorwiegend aus jenen Tschechen, die in Winterberg verblieben waren. Zum Vorsitzenden wurde der Bäckermeister Franz Černík gewählt, der damit an die Stelle des letzten deutschen Bürgermeisters Franz Thema trat, der ihm die Amtsgeschäfte übergeben musste. Thema wurde verhaftet und vorübergehend in Prachatitz inhaftiert. Černík konnte sein Amt aber erst ausüben, als er vom amerikanischen Militärkommandanten bestätigt war.
Die Winterberger hatten sich daran gewöhnt, dass von ihrem Rathaus nunmehr drei fremde Fahnen wehten: eine tschechische, eine amerikanische und eine sowjetische. Auch an das Auftreten tschechischer» Partisanen« gewöhnten sie sich. Diese liefen in Fantasie-Uniformen oder in deutschen Fliegeruniformen herum, trugen eine Armbinde mit der Aufschrift »český partizán« und gebärdeten sich als Sieger, obwohl sicher kaum einer der jungen Leute je eine Feindeskugel pfeifen gehört hatte. Auch Oberstleutnant Sucharda, der bis 1938 die Winterberger Garnison befehligte und dessen Gattin als Klavierlehrerin und stellvertretende Leiterin an der städtischen Musikschule tätig gewesen war, erschien in Winter berg mit einer Armbinde, die ihn als »Partisanen-General« auswies. Er hatte es in Prachatitz zum Vorsitzenden des okresní národní výbor, des Nationalen Kreisausschusses, gebracht.
Die tschechische Polizei hatte sich im Gasthaus »Stadt Wien« eingerichtet. Ihr Chef war der Fleischer Bursa. Von hier aus schwärmten Gendarmen, Hilfspolizisten und Partisanen aus, um systematisch die Wohnungen der Deutschen zu durchsuchen. Es kam zu vielen Verhaftungen von Winterberger Männern und Frauen. Das Gefängnis war stets Überfüllt.
Alle Rundfunkempfänger waren konfisziert worden. Die deutschen Straßenschilder wurden durch tschechische ersetzt. Und so mancher amüsierte sich im Stillen, wenn ihm bewusst wurde, dass anstelle der braunen Diktatoren nun die roten hoch im Kurs standen, wie die neue "Stalinova třída« bewies.
Während die Versorgung der tschechischen Bevölkerung in den Kriegsjahren im Protektorat besser war als sonst irgend wo im Herrschaftsbereich des NS-Staates, dankten das die hasserfüllten tschechischen Machthaber damit, dass sie der deutschen Bevölkerung nunmehr Lebensmittelkarten zuteilten, die in keiner Weise den allernötigsten Bedarf für das lebensnotwendige Minimum deckten. Dies bezog sich sowohl auf die Menge als auch auf die Art der genehmigten Lebensmittel, von denen die wichtigsten ausgeschlossen waren. Da längst alle Vorräte aufgebraucht waren und niemand auch nur die geringste Möglichkeit hatte, sich zusätzlich für Kinder oder Kranke etwas zu besorgen, versammelten sich die verzweifelten Frauen, an ihren gelben Armbinden mit dem großen „N“ als Deutsche gekennzeichnet, vor dem Rathaus, um für eine Aufbesserung der Rationen zu demonstrieren. Einige mutige Frauen trugen dem Vertreter der amerikanischen Stadtkommandantur und dem des narodní výbor ihr Anliegen vor. Sie wurden dabei durch lautstarke Proteste aus der Menge unterstützt, die den halben Kirchplatz füllte. Nach einiger Zeit riegelten "Partisanen« die Zugänge zum Ringplatz ab. Andere trieben mit gezogener Waffe die Frauen auseinander und drängten sie vom Platz in die Kirchengasse und die Steinbrenergasse ab. Es
ist nicht bekannt, ob die Aktion der tapferen Winterbergerinnen einen Erfolg gezeitigt hat; es dürfte aber einer der wenigen, wenn nicht der einzige Fall gewesen sein, wo es damals Deutsche gewagt haben, gegen Maßnahmen der „Sieger“ in der Öffentlichkeit zu protestieren.
Hans Harwalik – Fritz Pimmer (Hrsg.), Winterberg in Böhmerwald, Freyung 1995, S. 568 – 573.
Helga Großmann-Smola: Fahrt ins Ungewisse
Helga Großmann-Smola schrieb diesen Bericht für den Vortragsabend des 10. Winterberger Heimattreffens 1986 in Freyung. Er wurde um einige Erlebnisse einer unbekannten Verfasserin erweitert, die ihre Erinnerungen an den ersten Vertreibungstransport aus Winterberg in Heft 5/1966 des »Böhmerwäldler Heimatbriefes« veröffentlicht hat.
Im Januar/Februar 1946 verdichteten sich in der Stadt die Gerüchte um die bevorstehende Vertreibung aus der Heimat. Noch wollten viele nicht glauben, dass so etwas möglich wäre, und andere konnten sich nicht vorstellen, wie eine solche Abschiebung praktisch durchgeführt werden sollte. Aber am 10. März war es dann soweit. Die Namenslisten für den ersten Transport waren zusammengestellt, und um sechs
Uhr früh - es war ein Sonntag - trommelten Angehörige der tschechischen Miliz an Tore und Türen und Briefträger übergaben den Erstbetroffenen die Ausweisungsbefehle. Um vierzehn Uhr sollten wir zur Aussiedlung bereitstehen. So waren uns nur acht Stunden gegönnt, um pro Person 50 Kilogramm Gepäck herzurichten, das Bettzeug mit eingerechnet, das schnell in Decken oder wertlose Teppiche eingenäht wurde. In den Häusern und Wohnungen ist es hektisch zugegangen. Jeder wollte zeitgerecht fertig sein, und die Wahl, was mitgenommen werden sollte und auch durfte, war schwer. Unter Tränen nahmen wir von den Zurückbleibenden Abschied; wann und wo würde man sich wiedersehen?
So gegen 15 Uhr holten Ochsengespanne und Lastwagen das Gepäck ab, und ein Elendszug wanderte zu dem ersten gemeinsamen Nachtlager in zwei Sälen. Die Nacht verbrachten wir auf Stroh, die meisten aber halbwach auf ihrem Gepäck sitzend. Wie viele frohe Stunden hatten wir Jugendliche, besonders aber unsere Eltern und Großeltern, hier im Wiesersaal einst erlebt, der jetzt zur letzten Herberge in der Heimatstadt ausersehen war! Am nächsten Vormittag bewegte sich diese untröstliche Menge, es waren über sechshundert Personen, unter Gendarmeriebegleitung zum Bahnhof. Dort verstaute man uns in Viehwaggons. Etwa vierzig Personen mit ihrem gesamten Gepäck mussten in einem Wagen Platz finden; in den meisten mussten noch dazu zwei oder drei Kinderwagen mit den Babys untergebracht werden. Um die Kälte etwas zu lindern, es war ja erst Anfang März, gab es ein kleines Kohleöfchen, auf dem man auch Milch oder Wasser wärmen konnte.
[…]
Spät am Abend fuhr dann der Zug in Prachatitz ein, wo wir zunächst für eine Nacht auf Strohlager in die Turnhalle verfrachtet wurden. Am nächsten Tag kamen wir dann in das Sammellager in die Kasernen. Am 12. März mussten wir zur Registrierung. Wie wurde da schon mit unsern Ausweisen umgegangen! Viele Bilder unserer lieben Verstorbenen und Gefallenen, die wir zwischen unsern Dokumenten verwahrt hatten, wurden von den Tschechen auf den Boden geworfen und zertreten; niemand getraute sich, etwas aufzuheben, da man uns von allen Seiten genau beobachtete. Bei der anschließenden Gepäckkontrolle ging es unbeschreiblich zu. Von dem wenigen, das wir mitnehmen durften, wurde uns noch viel abgenommen, von dem man sich nun schweren Herzens trennen musste. Die Tschechen rauften sich geradezu um so manches Stück Wäsche oder Kleidung. Hernach folgte das traurigste Kapitel, die Abgabe der Sparbücher. Wie viele alte Leute mussten mit tränenfeuchten Augen und zitternden Händen ihre so schwer ersparten Notgroschen auf diese Weise verlieren! Die Tschechen grinsten höhnisch zu diesen Heldentaten. Auch die Leibesvisitation nach etwa verstecktem Schmuck oder nach Bargeld wurde ganz genau und ohne Rücksicht auf die menschliche Würde vorgenommen. Der »böhmische Zirkel« ging um...
Manchen Lagerinsassen brachten Verwandte etwas Verpflegung an das große Gittertor. Wenn wir dann hinliefen, um etwas aus Winterberg zu erfahren, dann schrieen die Posten »Potvory, zpět, střelíme na vás!« (zurück, Gesindel, wir schießen auf euch) und bedrohten uns mit ihren Waffen. Als von Wallern Zurückbleibende ihren Angehörigen Butterwecken als Reiseproviant brachten, verschwanden diese in der Lagerkanzlei, wo sie als Beute aufgestapelt wurden. Einige hatten den Mut, gegen diesen Raubzug Beschwerde einzulegen, worauf einige wenige der geraubten Sachen zurückgegeben wurden und bei den nächsten Transporten diese Diebereien unterblieben. Die Verpflegung im Lager bestand aus schwarzem Kaffee (Muckefuck) und Wassersuppen.
Am Joseftag, dem 19. März, einem herrlichen Frühlingstag, brachte man uns unter Gendarmeriebegleitung zum Bahnhof. Wieder in Viehwaggons, die völlig überfüllt waren, ging es auf die Reise ins Ungewisse. In Furth im Wald, endlich auf deutschem Boden, wurden uns Zettel in die Hand gedrückt, auf denen wir angeben konnten - es klang wie ein Hohn - wohin wir »zu gehen wünschten«. Zur Auswahl standen Hanau, Höchst und Rüdesheim. Wer von uns Winterbergern hatte bis dahin schon etwas von Hanau gehört? Vielleicht etwas von Höchst wegen seiner Industrie, sicher von Rüdesheim am Rhein, aber von Hanau? Schon in Prachatitz waren wir »entlaust« worden, ein Vorgang, der uns mehr amüsierte als kränkte, und den die, die ihn anordneten unter Umständen nötiger hatten als wir. Auch in Furth wurden wir wieder »entlaust« ...
Die Weiterfahrt von Furth wurde zu einer qualvollen, menschenunwürdigen Reise. Ab und zu wurde der Transportzug angehalten. Bestimmte Personen mussten aus den Wagen klettern und draußen antreten. Es wurde mit Fingern gezeigt, palavert, anscheinend suchte man Kriegsverbrecher. Die Betroffenen hatten Angst, aus unerforschlichen Gründen zurückgehalten zu werden und nicht mit den Angehörigen weiterfahren zu dürfen. Manchmal hielt der Zug, und alles musste aussteigen, damit wir entlang der Bahnlinie unsere aufgestaute Notdurft verrichten konnten. Jeder fürchtete, den richtigen, »seinen« Waggon nicht rechtzeitig wieder zu finden. Es kam auch vor, dass Männer während der Fahrt die Schiebetür etwas öffneten, um einer alten Frau, die sie an den Armen festhielten, die Erledigung ihres dringenden Geschäfts zu ermöglichen.
Nach einer endlos scheinenden Fahrt wurden einige Waggons, darunter auch der unsere, in Hanau abgekoppelt. Die anderen fuhren weiter in Richtung Höchst und Rüdesheim. Wir »Hanauer« hatten nur noch eine kurze Strecke in Richtung Fulda vor uns, bis wir in Nieder-Rodenbach endlich die Waggons verlassen konnten, während die letzten nach Langenselbold weiterfuhren. Am Bahnübergang warteten Ochsenkarren, von Bauern aus der Umgebung geführt, die unser Gepäck aufnahmen. Ein Teil der Winterberger wurde nach Rückingen gebracht, der andere den Berg hinauf nach Ober-Rodenbach. Ein kleines Dörfchen von dreihundert Seelen war das Ziel, das für viele von uns endgültig die »neue« Heimat werden sollte.
Ungefähr sechs Wochen lebten wir im Gasthaussaal des Anton Peter auf Strohlagern. Es gab nur eine »sanitäre« Anlage auf dem Hof und nur eine einzige Wasserpumpe. Nur unter schwierigsten Bedingungen konnte etwas gekocht werden. Schließlich waren alle auf die bäuerlichen Anwesen aufgeteilt und in Notwohnungen eingewiesen. Manchen Familien gelang es, in anderen Gebieten Deutschlands Fuß zu fassen; den meisten war Bayern am liebsten. Mit der Zeit fanden getrennte Familien zusammen, und mit weiteren Transporten kamen wieder Freunde und Bekannte aus der Heimat nach Hessen. Dort hatten wir erhebliche Verständigungsschwierigkeiten mit der ortsansässigen Bevölkerung und diese mit uns, denn der oberhessische Dialekt und unsere Winterberger Mundart weisen keine Gemeinsamkeiten auf. Ähnlich soll es auch den Winterbergern im Schwäbischen ergangen sein. Sehr schwer war das besonders für die Kinder, die zu Ostern 1946 in Ober-Rodenbach eingeschult wurden.
Nach und nach normalisierte sich das Leben. Wir, die von daheim Verjagten, trotzten der schier ausweglosen Situation, bauten das zerstörte Deutschland mit auf und schufen uns neue Existenzen. Die allermeisten von uns können stolz sein auf das, was sie durch Fleiß, Können und Zuverlässigkeit erreicht haben. Der Krieg hat unendliches Leid über die Welt gebracht. Uns hat er auch noch die Heimat, die geliebte und unvergessene, genommen. Vielleicht aber hat es das Schicksal trotz allem gut mit uns gemeint. Ob wir nämlich daheim unter den dort herrschenden politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen und als rechtlose Sklaven, denen man nicht einmal die Erziehung der Jugend in ihrer Muttersprache gewährt, glücklich wären? Diese Frage muss jeder für sich selbst beantworten. . .
Helga Großmann-Smola